Die Spezies hat‘s verkackt (6)

An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche,
kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende
liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken,
die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat,
daß ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.
Karl Kraus: Apokalypse (1908)


Die Biosphäre unseres Planeten geht in einem Tempo zugrunde, das sogar bewährte Schwarzseher, also Leute wie mich, überrascht, vom Entsetzen zu schweigen. Am Mittwoch berichtete u. a. die Website der Süddeutschen Zeitung,
was niederländische, deutsche und britische Forscher kurz zuvor auf dem wissenschaftlichen Internetportal Plos one publiziert hatten:

Seit 1989 ist die Masse der Insekten [in Deutschland] um durchschnittlich 76 Prozent zurückgegangen. „Mitten im Sommer, wenn viele Insekten ihren Höhepunkt erreichen, war sogar ein Rückgang von 82 Prozent in den untersuchten Gebieten zu verzeichnen“, schreiben die Autoren.
SZ.de, 18.10.2017

Der Befund rührt nicht aus Industrieflächen, Großstädten, Müllbrachen oder anderweitig verwüsteten, neudeutsch: „versiegelten“ Gegenden:

[Die] Proben, die den drastischen Rückgang belegen, [stammen] allesamt aus Naturschutzgebieten […] – aus Regionen also, von denen man annehmen würde, dass die Natur dort zumindest noch halbwegs intakt ist. „Wenn die Biomasse an Insekten bereits an geschützten Standorten so drastisch zurückgeht, ist klar, daß die Entwicklung in nicht geschützten Ökosystemen mindestens genauso gravierend ist – vermutlich sogar gravierender“, sagt Johannes Steidle, Tierökologe an der Universität Hohenheim in Stuttgart.

Was die Ausrottung der Insektenpopulationen ökologisch bedeutet, faßt Süddeutsche.de so zusammen:

Klar ist, daß etwa 80 Prozent der wild wachsenden Pflanzen von Insekten bestäubt werden. Bleiben die Insekten weg, können sich auch die Pflanzen nicht mehr vermehren. Außerdem sind Insekten eine wichtige Nahrungsquelle für viele andere Tiere, zum Beispiel ernähren sich etwa 60 Prozent aller Vogelarten von ihnen. Vor diesem Hintergrund ließen die Ergebnisse der aktuellen Untersuchung auch die andernorts beobachteten Rückgänge insektenfressender Vogel- und Säugetierarten in einem neuen Licht erscheinen, sagt Hans de Kroon, einer der Studienautoren von der Radboud-Universität im niederländischen Nijmegen.

Was aber verursacht das Desaster? Die Wissenschaftler haben Thesen:

In Frage kommen ihrer Ansicht nach die allgegenwärtigen Stickstoffverbindungen, die teils aus Düngemitteln stammen, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Weniger bekannt ist, daß auch durch Abgase aus Autos und Fabriken Unmengen von Stickstoffverbindungen in die Umwelt gelangen. […] Dort verändern sie zunächst die Vegetation: Pflanzen, die auf stickstoffarmen Böden gedeihen, werden von Allerweltsarten wie Brennessel und Löwenzahn verdrängt, und mit ihnen auch die Insekten, die auf diese Pflanzen zum Überleben angewiesen sind.
Mindestens genauso verdächtig sind Pestizide im Allgemeinen und speziell die sogenannten Neonicotinoide.

Eines dieser verdächtigen Pestizide heißt Glyphosat. Experten, die den Einsatz der Chemikalie unterbinden wollen, haben leider keine Chance, sich durchzusetzen. Das Geschäft mit dem Gift läuft so gut, daß die EU-Kommission gar nicht anders kann als zu empfehlen, einfach mal zehn Jahre mit dem Verspritzen weiterzumachen. Dies „sei angesichts der Risikoabwägung ‚angemessen‘“ (Spiegel online, 20.7.2017). In zehn Jahren wird es vermutlich keine EU-Kommissare und keine Fluginsekten mehr geben, aber Glyphosat weiterhin. Das nennt man die Weisheit des Marktes.

Was im Plos one-Bericht dokumentiert wird, bestätigt Beobachtungen, die aufgeweckte Leute wie z. B. der Zoologe Josef Reichholf bereits vor Jahren machten. Wurde noch in den 1990er-Jahren die Windschutzscheibe eines Autos schon bei einer kleinen Landpartie mit zerschmetterten Insekten verschmiert, bleibt das Glas heute sogar nach einer Tagestour durch die Provinz klar wie am Morgen. Nichts summt und brummt mehr zwischen und über den Monokulturen der Agrarindustrie. Die Luft ist rein von Leben.

Vor einigen Wochen hörte ich im Deutschlandfunk ein kurzes Feature über die Verantwortung der chemikalisierten Landwirtschaft für das massenhafte Sterben der „minderen“ Arten. Darin kam auch ein Bauernverbandsfunktionär zu Wort, ein alerter Bursche, mit allen Duftwassern der PR gewaschen, so dreist und ignorant und selbstherrlich, wie es all diese Agenten des ungebändigten Kaputtalismus sind. Hören Sie sich bitte an, was der sagt und wie. Und wenn Ihnen dabei nicht ein Typ wie aus der Business-school-Retorte vors innere Auge tritt, verwechselbar mit all diesen Zombies, an die wir unser und das Schicksal des Planeten abgetreten haben, mit diesen Untoten, die Herren über jedes Leben sind – falsches Lächeln, starrer Blick, gedrillte
Gestik –, wenn Sie sich diese Kreatur namens Marco Gemballa noch als Menschen im Kantischen Sinne imaginieren können, sind Sie eventuell auch bereit zu glauben, daß innerhalb eines Wahnsystems, das derlei Replikanten produziert, irgendetwas zum Besseren zu wenden, daß die vermarktete Welt unter ihren eigenen Bedingungen reparabel sei –:


Mit derselben Bauernschläue dürfte der Kerl (der, was paßt, auch im Vorstand des CDU-Landesverbands von Mecklenburg-Vorpommern sein Wesen treibt), spräche man ihn auf das grauenhafte Ergebnis der Plos one-Studie an, erwidern: Es sei ja nicht „besonders wissenschaftlich“, Befunde aus Naturschutzgebieten auf agroindustrielle Flächen zu übertragen.

Diesen wissenschaftsfreien Topvertretern des Kaputtalismus fällt immer was ein, um sich aus dem Dreck zu ziehen, den sie permanent mit höchstem Einsatz erzeugen. Das können sie so gut, wie es eben nur die Idealexemplare der bösartigsten, grausamsten, eigensüchtigsten Spezies können, die der Planet Erde in seinen ca. 4,6 Milliarden Jahren je durch den Kosmos kutschierte.

Die Menschheit hat im Dauerkrieg der Gattungen so total und fürchterlich gesiegt, unsere Art hat ihre Triumphstandarten so tief ins Gewebe Gaias gerammt, daß die Folgen des globalen Feldzugs, je sichtbarer sie werden, je schockierender sie ausfallen, der Siegermacht selbst kaum eine Fußnote wert sind. Die Menschheit dominiert die Erde so absolut, so rücksichtslos, so sadistisch und bigott, daß sie, die angeblich intelligente Spezies, höchstens mit den Schultern zuckt, wenn sie mit den wahnsinnigen Resultaten ihres Vernichtungskriegs konfrontiert wird.

In den leistungsstärksten Hirnen, welche die terrestrische Evolution hervorbrachte, ist etwas gräßlich Primitives eingebaut, eine Gangster- und Killermentalität, ein maßloser Egoismus, und deshalb, vermute ich, nehmen wir Menschen Nachrichten vom Untergang unserer Welt so gelassen hin wie die Mitteilung, daß im Klo der Nachbarn was verstopft ist.

Der wahrhaft apokalyptische Nachweis vom Aussterben der Kerbtiere, diese Ankündigung des Untergangs sämtlicher Biodiversität, des drohenden Exitus allen, mithin auch unseres Lebens auf der Erde, hat in den Medien und beim Publikum für erheblich weniger Irritation gesorgt als der übliche Quatsch über Jupp Heynckes oder, weißnich, Daniela Katzenberger. Das Armageddon schafft keine Quote in diesen allerletzten Tagen der Menschheit. Lieber schwafeln wir über geistig reduzierte Dschungelcamper, die sich übergeben mußten, nachdem sie eines der wenigen noch existierenden Gliedertiere lebendig verschlangen.

Die Online-Seiten der deutschen „Qualitätsmedien“ verleugnen die Katastrophenmeldung keineswegs; sie halten sie aber, was kaum besser ist, für nicht besonders wichtig. Sie verbergen das finstere Zeichen der Zeit irgendwo zwischen Sondierungsgesprächen, „Russiagate“ und dem Rücktritt eines Deppen. Eine Titelseite war die Meldung vom Ende der Welt keinem einzigen Qualitätsorgan wert.

Was – wäre Homo tatsächlich sapiens – auf Wochen hinaus die wichtigste, weil alarmierendste Nachricht der Welt sein müßte, läuft unter ferner. Dies hier sind die Aufmacher der großen deutschen Newsportale, aufgezeichnet am 19. Oktober, kurz nach 21 Uhr:

Spiegel online


Zeit online

SZ.de

FAZ.net


FR.de

Tagesspiegel.de

 

Taz.de


Ein guter, kluger Freund von mir meint, die Ignoranz der Menschheit vis à vis der sich entfaltenden Apokalypse sei dem geschuldet, was Dr. Freud „Thanatos“ nannte, das heißt, einem Todestrieb.
Ich mochte dieser Spekulation bislang nicht zustimmen, nicht zuletzt, weil mir Freuds Seelenweberei recht fadenscheinig vorkommt. Aber mir fällt nach dem
Plos one-Report und angesichts der allwaltenden Gleichgültigkeit nichts Gescheiteres mehr ein, um die Blödheit der Spezies zu deuten, als die Thanatos-Hypothese.

Die Erde, so viel ist sicher, wird unsere großartige Art nicht vermissen. Doch die Motten, die Mücken, die Mai- und Marienkäfer, die wir so eifrig und hartnäckig abschlachten – die werden der Biosphäre tatsächlich fehlen, übrigens auch ästhetisch. Wir sollten diese bescheidenen Partisanen im Überlebenskrieg nicht länger bedrängen. Wir sollten lieber uns selbst ganz schnell ganz klein machen. Wenn die Existenz unserer Gattung irgendeinen Sinn haben soll, darf er jedenfalls nicht Marco Gemballa heißen.

Photo: „Maisfeld bei Fernneuendorf – panoramio“,
by
Löwe 48 [CC BY-SA 3.0],
via Wikimedia Commons


Freitag, 20. Oktober 2017 13:36
Abteilung: Die Spezies hat‘s verkackt, Kaputtalismus

6 Kommentare

  1. 1

    Aus unsicherer Quelle erfuhr ich, daß in Hamburger Redakteursstuben tatsächlich über einen großen Aufmacher „Insektensterben“ nachgedacht wurde. Soll trotz des großen Angst-Profitpotenzials mit dem Hinweis auf das nach den 80ern ausgebliebene Waldsterben vom großzynischen Chefredakteur („Insektensterben in meiner Küche wäre klasse“) niedergeknüppelt worden sein.

    Klingt, selbst wenn’s erfunden ist, plausibel. KS

  2. 2

    Ich habe das jetzt gerade nur überflogen, und mir den sympathischen Bauernfunktionär auch noch nicht angehört. Aber schon einmal danke im Zwischendrinbereich – und eine Anmerkung zu den Neonicotinoiden: Die werden deshalb nicht verboten, weil sie, obzwar heftige Nervengifte, die Insekten dennoch nicht direkt umbringen, sondern nur so beeinträchtigen, daß sie nicht mehr klarkommen und an anderen Ursachen sterben. Dann war’s aber eben nicht absolut eindeutig das Gift, und deshalb kann es auch nicht verboten werden … Quelle folgt, wenn ich Zeit habe zu suchen.

    Der Mensch stirbt ja auch nicht am Feinstaub, sondern weil er erstickt. KS

  3. 3

    Dazu noch eine kleine Phantasie: Wenn Alkohol dazu führte, daß 76 % der CSU-Funktionäre nicht nur ihre Autos kaputt- und gelegentlich jemand anderes totführen, sondern sich selbst – wie schnell wäre er dann wohl verboten?

    Ich schätze, daß die betr. Funktionäre sich auf Staatskosten Chauffeure genehmigen werden. Und schon schmeckt die Maß wieder. KS

  4. 4

    Nur eine Öko-Diktatur kann jetzt noch die Menschheit retten!
    Wenn ich mal Öko-Diktator bin, werde ich sofort ein 10-Punkte Programm an den Start bringen:

    01. Massentierhaltung verbieten
    02. Flugbenzin besteuern
    03. Flugreisende mit dem Reiseziel Mallorca und Thailand werden bei Urlaubsantritt mit sofortiger Wirkung ausgebürgert.
    04. Auf die Teilnahme an Kreuzfahrten steht die Todesstrafe.
    05. Autofahrern, die alleine fahren, verlieren die Fahrerlaubnis, ihr Kraftfahrzeug wird verstaatlicht.
    06. Das Tragen von Schlips und Kragen wird mit Abhacken der rechten Hand bestraft. Linkshändern wird die linke Hand abgehackt.
    07. Ausbau der Polizei und des Militärs, schließlich müssen meine guten Ideen dringlichst in die Welt getragen werden.
    08. Albernheiten wie Pressefreiheit oder Demokratie werden bis zur Genesung unseres Planeten ausgesetzt.
    09. Ab wann mein Planet genesen ist, bestimme ich.
    10. Anstatt mit „guten Tag“ oder „grüß Gott“ o.Ä. begrüßen sich meine Untertanen mit „Heil-Erde“.

    Alles Nähere regeln dann natürlich Bundesgesetze. Propagandaminister wird Kay Sokolowsky, von allen seinen Veröffentlichungen muß in jedem Haushalt mindestens ein Exemplar vorhanden sein.
    Wie wär’s?
    Mit Grüßen aus dem Öko-Hauptquartier,
    Daniel Lüdke

    Ich soll Dir den Goebbels machen? Na, ich weiß nicht … Das versaut nicht nur den Charakter, sondern auch den Stil. KS

  5. 5

    „Ach, so schlimm kann das gar nicht sein. Wenn es bei uns keine Insekten mehr gibt, kaufen wir die im Ausland ein. Das ist doch das Gute an der Globalisierung. Und wenn alle Stricke reißen, können wir das Jobmodell ‚Bestäuber‘ entwickeln, genug ‚Arbeitsscheue‘ haben wir doch.“
    Jetzt im Ernst, ich habe neulich einen Bericht über Landwirtschaft in China gesehen, und dort turnen ernsthaft Menschen durch Obstbäume, um die Blüten zu befruchten. Den Chinesen gehen nämlich ebenfalls die Insekten aus.
    Und aus den USA hören wir vermutlich nur deshalb nichts mehr vom Bienensterben, weil die Mandel- und Obstplantagen in Californien bereits durch den selbstverschuldeten Wassermangel keinen Bedarf mehr an Bestäubung haben.
    Ein Trauerspiel.

    Derweil wehrt sich bei den „Sondierungen“ in Berlin die FDP gegen das bißchen grüne Landwirtschaft, das die Grünen sich noch wünschen. Deren Minimum an Regulierung wird abgelehnt, weil der Markt in seiner Weisheit es ja richten und überhaupt die Wissenschaft überschätzt wird. – Nein, der Weltuntergang durch Kaputtalismus ist kein Trauerspiel. Er ist die obszöne Farce einer zum Untergang gierenden Gattung. Und kein Gott wird ihr/uns beistehen. Wir haben göttlichen Beistand auch nicht verdient, wenn wir solche Zombies wie Christian Lindner oder Angela Merkel als unsere Repräsentanten zulassen. KS

  6. 6

    Die Windkraftanlagen bitte nicht vergessen. Die stehen hier in unserer vergifteten Landwirtschaft und geben der Natur den Rest. Die Rotorblätter sind so mit Insekten verschmiert,das bei bestimmten Windstärken die Leistung einbricht. Strömungsabriß. Bis zu 25 % weniger Leistung. Entschuldigung. Es kotzt mich an.

    Dafür müssen Sie sich nun wirklich nicht entschuldigen. KS

Kommentar abgeben (Kommentare unter Moderation - Regeln siehe HIER)

Math Captcha *Zeitlimit überschritten. Bitte füllen Sie das Captcha noch einmal aus.