Indian Summer, c/o Hamburg (1): Erscheinung

Für Frau Freitag

Kurz nach zwei machte sich Robin, das Rotkehlchen, das eigentlich Lothar hieß, auf den Weg zur Militärakademie. Der Wind blies nicht mehr so stark wie am Vormittag, und endlich schien wieder die Sonne. Zwar sind Rotkehlchen wetterfester als sie aussehen. Doch bei Böen und Schauern haben sie lieber Gebüsch um sich herum, statt durch die Gegend zu flattern. Wenn man bloß so viel wie ein Brief mit Marke wiegt – und das bestenfalls nach dem Mittagessen –, dann wird fliegen in schwerem Wetter zu einer riskanten Angelegenheit. Sogar ein Abenteurer wie Robin hob unter solchen Bedingungen nur in Notfällen ab.

Er legte mehrere Pausen auf Dachrinnen, Schornsteinen, Astspitzen ein, plusterte das Gefieder auf und ließ sich von der Herbstluft fönen. Robin war vom Regen der vergangenen Tage klamm bis auf die Haut, und das gefiel ihm nicht besonders. Außerdem mußte er überlegen, ob er wirklich zur Militärakademie wollte. Er wurde das Gefühl nicht los, daß ihn dort eine gewaltige Blamage erwartete. Und so was brauchte er jetzt gar nicht. Die Suche nach Futter und einem trockenen Plätzchen kostete derzeit schon genug Kraft und Nerven.

Seine Taubenkumpel hatten tags zuvor sehr geheimnisvoll getan: „So was hast du noch nie gesehen“, hatte der General gesagt. Auf Robins Erwiderung, er habe alles schon mindestens zweimal gesehen, hatte der General mit dem Schnabel geklappert – Tauben lachen so – und sein Adjutant, der Oberst, gegurrt: „Wollen wir wetten? Wenn du verlierst, mußt du für uns eine Woche lang Körner suchen. Und wenn wir verlieren – was garantiert nicht passiert – beschützen wir dich eine Woche lang vor Robert, der Rabenkrähe.“ Und Robin, der der Meinung war, es heiße „nachdenken“, weil man das Denken danach tut, hatte sofort eingeschlagen.

Wenn er wenigstens gefragt hätte, worum es überhaupt ging. Nur eine Andeutung! Schnäbelklappernd waren der General und sein Oberst davongeflogen, und seither plagte Robin die nicht so angenehme Vermutung, sich selbst reingelegt zu haben. Er schielte durch die grauen Nadeln der todkranken Kiefer hinunter auf den Rasen, wo er im Sommer Dagmar, der Singdrosselin, zusammen mit Ulf, dem Eichhörnchen, den Schreck ihres Lebens eingejagt hatte. Ach, das waren gute Zeiten gewesen! Tausend Jahre her schienen ihm diese fröhlichen Tage. Eine Wolke zog vor die Sonne, und ihm wurde so kalt, daß er nicht mal mehr wußte, wie man eine Melodie pfeift. Dur, moll, Quinte, Terz und Prime … Alles vergessen! Aus einer krummen Ecke der Welt wehte das Krächzen einer Krähe an Robins Ohren, und vor Verzagtheit steckte er den Schnabel ins erdbeerrote Brustgefieder.

Dann hörte er etwas anderes: Das Eisentor der Militärakademie quietschte in den Rollen, und ein Omnibusmotor erleichterte sich mit einem mächtigen Rußfurz. Steckte in der rollenden Blechschachtel, was der General gestern gemeint hatte? Wenn Robin jetzt losflog, hatte er vielleicht eine Chance, das große Geheimnis zu sehen, bevor die beiden Tauben ihn in die Mangel nehmen konnten! Ohne nachzudenken, flitzte das Rotkehlchen zwischen den dürren Kiefernzweigen nordwärts.

Robin wirbelte durch die Wipfel, wischte an den Betonkanten des Neureichenhauses vorbei und erwischte mit letzter Kraft einen Ast in der scharf rasierten Kopfkante einer Buchenhecke. Der Wind war immer noch zu kompakt für etwas so Zierliches wie ihn, und natürlich hatte er es mit dem Tempo mal wieder übertrieben. Er japste, zog sich die Flugfedern mit dem Schnabel zurecht, bekam einen Hustenanfall und hoffte inständig, daß niemand ihn in diesem Zustand erblickte. Immerhin war das Krähengekreisch in der Ferne verstummt. Robin schaute schnaufend auf und sah etwas, das er nicht zwei-, nicht ein-, das er noch keinmal gesehen hatte. Sein Schnabel schnappte auf wie eine Gartenschere und seine Augen quollen hervor, bis sie Johannisbeeren glichen.

Denn vor dem hohen Zaun der Akademie ragte noch höher, viel höher der König, der Gott aller Rotkehlchen auf. Wie eine Flamme leuchtete sein Gefieder, wie eine Glocke wölbte sich seine Brust, und nichts stand über ihm als ein Himmel aus Saphir. Robin starrte minutenlang auf die Erscheinung und merkte nicht, daß er vor Staunen in schneller Folge mehr hohe C‘s pfiff, als Luciano Pavarotti in seinem ganzen Leben geschafft hatte. Und Pavarotti war – für einen Menschen – recht gut in hohen C‘s.

Nun möchte man meinen, daß Robin, der eigentlich Lothar hieß, sich mit Bäumen hätte auskennen sollen. Schließlich hatte er die meiste Zeit seines Lebens in, auf oder unter ihnen verbracht. Und wenn er vielleicht auch kein Experte für mehrjährige holzige Samenpflanzen war – einen Ahorn mit einem Rotkehlchen zu verwechseln, das hätte ihm wirklich nicht passieren dürfen.

Tja, dergleichen sagt sich leicht daher. Es gibt genug Leute, die gucken auf ein Walroß und sagen: „Potztausend, das Viech sieht aus wie dieser Schriftsteller, der Nobelpreisträger!“ Andere halten sich eine Muschel aus Kunststoff ans Ohr und rufen: „Oh, man kann das Meer hören!“ Und auch ihr habt bestimmt schon mal im Gras gelegen, nach oben gestarrt und bei einer Wolke gedacht, sie wirke wie ein Matterhorn, und bei der nächsten, sie sei Onkel Erwin aus dem Gesicht geschnitten, besonders die Nase.

Robin guckte jetzt ebenfalls hinauf, über die glühende Krone des Ahorns hinweg, wo Wolken segelten, die nach gar nichts aussahen. Er bog den Hals bis zu den Schwungfedern zurück und entdeckte ganz weit oben ein Düsenflugzeug, das einen schnurgeraden Kreidestrich über die blaue Tafel des Himmels zog.

Für das Rotkehlchen war so ein Kondensstreifen immer ein gutes Zeichen, obwohl es nicht hätte sagen können, weshalb. Phantasie – davon besaß Robin mehr, als ihm wohl tat – und Aberglaube sind bekanntlich nahe Verwandte, und vielleicht wäre der winzige Vogel kein solcher Draufgänger und Angeber gewesen, wenn er nicht in allem, vor allem jedoch in der Dampfschleppe von Düsenflugzeugen ein gutes Zeichen gesehen hätte. Zum Beispiel damals, als er sich in das Haus gewagt hatte, das zu Timmis Revier gehörte …: An jenem Nachmittag hatte ebenfalls ein Kondensstreifen den Himmel in zwei Teile geschnitten. Und es war alles bestens ausgegangen, ohne Zwischenfälle! (Von dem kleinen Malheur mit dem Michelangelo-Kunstband einmal abgesehen.)

Um sich an das enorme Ahornrotkehlchen näher heranzuwagen, brauchte Robin unbedingt ein gutes Zeichen. Diese Überlegung war weniger albern, als ihr denkt. Stellt euch nur einmal vor, euch liefe plötzlich ein dreihundert Meter großer Mann über den Weg – den würdet ihr auch nicht einfach so ansprechen: „Ey,Digga, was geht!“ Jedenfalls nicht, so lange ihr keine Ahnung habt, was er gern zu Abend ißt. Und ihr wärt sehr vorsichtig, bis irgendwas euch das Gefühl gibt, daß nichts Schlimmes passieren wird außer, möglicherweise, ein kleiner Wirbelsturm, falls der Riese einen Schnupfen hat und niesen muß.

Dieses Gefühl von Sicherheit entlieh Robin dem Anblick des Kondensstreifens. Und deshalb atmete er tief durch, kniff die Kloake zusammen und flatterte hinüber zu seiner Erscheinung.

Wird fortgesetzt.


Mittwoch, 24. Oktober 2012 0:54
Abteilung: Erzählungen, Timmis Freunde

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