Beiträge vom Dezember, 2024

Eva heißt Mutter heißt Maria

Dienstag, 31. Dezember 2024 0:04



Dem Publikum, das meinem Blog verblieben ist, wünsche ich ein glückliches neues Jahr.
Ich beende das alte an diesem Ort, der übers Jahr bloß ein Archiv war, mit den Worten, die ich vor bald sechs Monaten am Grab meiner geliebten Mutter sagte. Es ist eine Geschichte, die ich den Geschwistern, Verwandten, Freunden unbedingt erzählen wollte, weil sie etwas Wundersames berichtet und weil sie einen Trost enthält, der mir über den nicht zu stillenden Schmerz seit Mutters Tod nicht wenig geholfen hat und hilft.
Man sehe mir, bitte, meinen Aberglauben nach; es ist nämlich keiner.

Am Abend, als Eva-Maria Sokolowsky, geborene Seiferth, mit 86 Jahren starb, fand das Eröffnungsspiel der Fußball-Europameisterschaft statt, und weil die Deutschen auf dem Platz standen, wurde viel geböllert. Ich weiß nicht, ob Mutter das noch hörte; ich hoffe, nicht. Als wir an ihrem Sterbebett versammelt standen, war das Spiel bereits aus, und es wurde erst recht geböllert, weil Deutschland gewonnen hatte. Das konnte Eva natürlich nicht mehr hören. Ich fand es unwirklich, grotesk, so, als sähe ich einen Film mit der falschen Tonspur. Man hat hin und wieder derartige Träume kurz vor dem Erwachen, und ein bißchen wünschte ich mir, daß das, was ich gerade erlebte, auch ein Traum war und ich gleich aufwachen und ihn schnell vergessen würde.

Kurz vor Mitternacht löste die Totenwache sich auf, aber ich wollte noch nicht gehen, denn draußen war weiterhin zu hören, wie die Leute sich über den albernen Fußballsieg freuten, und ich mochte Eva nicht allein lassen, so lange dieser Lärm währte. Meine Schwestern baten mich, auch bald heimzugehen, und ich versprach es ihnen, aber dann war ich doch eine ganze Stunde allein mit unserer Mutter, weil in der Nachbarschaft die Fußballbesoffenen kein Ende fanden. Sie beschallten die Gegend jetzt nicht mehr mit Böllern, sondern mit einer scheußlichen Ballermannmusik, und weil mich das wütend machte, schloß ich das Fenster, denn ich wollte vor der Verstorbenen nicht fluchen.

Dann setzte ich mich auf das kleine Sofa in dem kleinen Zimmer und blätterte in dem schönen Familienalbum, das eine meiner Schwestern für Eva angefertigt hatte. Darin sind viele Bilder von ihr als Kind, als Teenager und als junge Frau, und manchmal sah ich vom Album auf und hinüber zu der Toten, und ich versuchte, in ihrem Gesicht das Gesicht wiederzufinden, das sie als Kind und junge Frau hatte. Es war noch da, aber es hatten sich viele, viele Jahre darüber gelegt, viele, viele Geschichten, ein Leben, das oft schwer, aber – zum Glück für sie, zum Segen für uns – sehr lang war.

Dann blätterte ich eine Albumseite auf mit einem Foto von mir als kleiner Junge, wie Eva mich füttert. Ich bin keine drei Jahre auf dem Bild, und die Frau, die mich füttert, ist in der Szene halb so alt, wie ich heute bin. Ich sehe ziemlich zufrieden aus, die Backen voll und von Sabber glänzend, und sie lächelt, weil ich so brav futtere. Eine meiner Schwestern hat mir erzählt, daß unsere Mutter, als sie schon im Sterben lag, zu ihr sagte: „Kay hat immer so schön gegessen.“ Ich bin froh, daß Eva sich daran erinnerte, als ihr Gedächtnis sie immer öfter im Stich ließ, und nicht an das Garstige und Gemeine, das sie von mir auch ausstehen mußte, nicht an den Kummer, den ich ihr oft bereitete.

Ich sah mich in dem kleinen Raum um, der ihr letztes Zimmer auf Erden war, und fragte mich, was sie in ihren letzten Tagen wohl dachte, wenn sie mal die Augen aufschlug und an die Decke und die Wände sah. Vielleicht sah sie etwas, das nur sie sehen, aber nicht mehr sagen konnte. Es ist ein Geheimnis, das sie für sich behielt, und sie hat es mir auch in dieser Nacht nicht verraten.

Mitternacht war vorbei, und ich ging auf den kleinen Balkon ihres kleinen Zimmers, um eine Zigarette zu rauchen. Die Fußballparty war endlich vorbei. Nur der Wind war noch zu hören und ein wenig Verkehr auf der Osdorfer Landstraße. Am Abend war der Himmel ziemlich bedeckt gewesen, doch nun hatte er sich geöffnet, und ich sah hinauf zu den Sternen, sah den Großen Wagen, und ich dachte: Gut, der wird sie mitnehmen, wohin auch immer sie jetzt unterwegs ist. Ich ging wieder hinein, öffnete das Fenster, löschte die Kerze auf dem Tisch und nahm Abschied, kurz vorm Ende der Geisterstunde.

Nun kommt der seltsame Teil meiner Geschichte. Der Teil, von dem ich immer noch nicht weiß, ob er wirklich passiert oder eine Halluzination, ein Traum gewesen ist. Es war für mich jedenfalls wie ein Wunder, und deshalb erzähle ich jetzt davon. Ich verließ das Altenheim und trat auf die Straße, und alles war so still, wie es um diese Zeit immer sein sollte. Nur der Wind flüsterte in den Blättern, weit und breit rührte sich nichts, kein Mensch, kein Auto.

Ich war keine zehn Schritte gegangen, als ich ein Geräusch hörte, das ich nie vergessen werde. Ich hörte aus einem Baum, einer Esche, glaube ich, gegenüber vom Altenheim einen hellen, klagenden Ruf, und dann wieder und wieder. Alle zehn Sekunden wiederholte sich dieser Ruf, und ich blieb stehen wie angenagelt und traute mich nicht, weiterzugehen. Das war ein Steinkauz, der da rief, und der ist, wie alle Eulen, ein Totenvogel. Es gibt mehr Eulen in Hamburg, als man glaubt, aber in diesem Viertel? So weit weg vom Klövensteen? Und gerade hier, genau hier, gleich gegenüber von Evas letztem Zuhause? Das Käuzchen drückte jedenfalls ohne Worte aus, was ich jetzt mit so vielen Worten nicht entfernt so schön ausdrücken kann. Ich hätte gern meine Geschwister bei mir gehabt, damit auch sie das hätten hören können.

Das Wundersamste war dies aber noch nicht. Während ich da stand und lauschte und der Steinkauz klagte, huschte plötzlich etwas über die Straße – schnell wie eine Katze, aber klein und pummelig und auf seinen kurzen Beinen trippelnd wie eine Figur aus einem Mickymausfilm. Das war ein Igel, und er war so nah, daß ich eins seiner Knopfaugen glitzern sehen konnte. Der Igel kam vom Gelände des Pflegeheims, und er lief in die Richtung, in die ich gehen mußte, aber noch nicht konnte.

Ich bilde mir das zweifellos nur ein, trotzdem glaube ich bis heute, daß dieser eilige Igel mir ein Zeichen gab. Ja, ich bilde mir das ganz bestimmt nur ein – und dennoch glaube ich, daß das Tierchen unter dem kleinen Balkon von Evas kleinem Zimmer gewartet und auf mich achtgegeben hatte, bis ich sie endlich verließ. Und ich glaube, daß es kein Zufall war, daß ich einen Igel statt einer Katze durch die Nacht laufen sah, was doch viel wahrscheinlicher gewesen wäre, hier, mitten in einem Wohngebiet.

Denn Igel mag einfach jeder, so wie Eva ein Mensch war, den einfach jeder mochte. Aber Igel können sich auch wehren, nicht mit Zähnen und Krallen, sondern mit ihren Stacheln, und so freundlich und klein und zart Eva war – auch sie konnte widerborstig sein und es mit Feinden aufnehmen, die viel größer und gefährlicher waren als sie. Als Eva noch klar sprechen konnte, sagte sie mir einmal, sie stelle sich vor, bald auf einer Wolke zu sitzen und von dort oben auf uns alle aufzupassen. Aber es muß ja nicht eine Wolke sein. Seit jener Nacht weiß ich, daß sie auf ihre Kinder immer ein Auge haben wird und daß sie zur Not ein Zeichen geben wird, welchen Weg wir gehen sollen, wenn alles dunkel ist und still und das Herz und der Kopf wie betäubt sind. Ich ging endlich heim, und auch der Igel war irgendwohin verschwunden, wo es ihm hoffentlich prächtig geht.

Das wollte ich von jener Nacht erzählen, und ich danke für die Aufmerksamkeit, obwohl ein Käuzchen diese Geschichte viel besser erzählt hätte.

Abteilung: Per sempre addio, Selbstbespiegelung | Kommentare (3) | Autor: