Das vorstellbare Glück. Ein Geburtstagsgruß

Ror Wolf, der bedeutendste deutschsprachige Dichter unserer Zeit, begeht heute seinen 83. Geburtstag. Das ist für jeden, der sich aus Literatur etwas macht, eine Freude, und an einem Tag wie diesem, der vor Katastrophenmeldungen nachgerade dröhnt, sogar ein Trost. Wolfs Dichtung bietet einer Welt, die ihren Wahnsinn immer schlechter verbirgt, weiterhin die Stirn; und es besteht kein Zweifel daran, wer sich beim Zusammenstoß eine Beule holen wird. Obwohl Ror Wolf explizit politische Texte niemals verfaßt und seinen Abscheu vor jederlei Ideologie wiederholt erklärt hat, steht seine Kunst für das Unbestechliche, Eigenwillige, Integre, Widerständige, das in der Einen Welt der Neoliberalen immer seltener und daher immer nötiger wird. Es schadet niemandem, sich ein Beispiel an Wolfs Konsequenz, Mut und Souveränität zu nehmen.


Und es schadet erst recht nicht, anläßlich des Geburtstags eines sehr großen Poeten wieder oder zum ersten Mal sein Werk zu studieren. Allen, die Ror Wolfs Schaffen nicht kennen, aber Interesse bekunden, empfehle ich seit Jahr und Tag seine Hörspiele: Sie eröffnen zu einem durchaus nicht einfachen Werk den denkbar leichtesten Zugang. Im Rahmen der Gesamtausgabe hat der Schöffling Verlag den Hörstücken des Meisters, die nichts bzw. nur am äußersten Rand mit Fußball zu tun haben, einen eigenen Band gewidmet. Herausgegeben und mit einem kundigen Nachwort versehen von Hans Burkhard Schlichting, der als Chefdramaturg des SWR die entzückendsten, beglückendsten Hörspiele Wolfs produzierte, außerdem ausgestattet mit einer MP3-CD, auf welcher alle in dem Buch abgedruckten Stücke nachgelauscht werden können, in brillanter Qualität gesetzt und gedruckt, scheint mir der Preis für diesen Werke-Band nicht bloß angemessen, sondern fast zu niedrig.

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Vor bald 20 Jahren habe ich an der Uni Hamburg einen langen Vortrag über Ror Wolf und seine Kunst gehalten. Dieser Vortrag liegt seither in meiner Schublade bzw. auf der Backup-Harddisc, gedruckt wurde er nie. Ich versuchte damals eine Art Synopsis eines gewaltigen Oeuvres – nun ja, ich war jünger und ergo dümmer als heute. Beim Wiederlesen des Manuskripts habe ich allerdings, zu meiner Beruhigung, feststellen können, daß mein Vorsatz 1998 vielleicht vermessen war. Aber die einzelnen Teile des Vortrags sind so übel nicht. Und um Sie, liebe Leserin, lieber Leser, zu überzeugen, daß Sie den gepriesenen Hörspiel-Band der Schöffling-Werkausgabe schleunigst erwerben müssen, zitiere ich mich jetzt selbst, mit meiner Hymne auf das Hörspiel schlechthin, das Weltwunder Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nordamerika. Und sollten meine Worte Sie nicht beeindrucken … Ist Ihnen auch sonst nicht zu helfen.

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Cover_Einsamkeit_(c)_Schoeffling-Verlag

(c) Schöffling & Co.

18 Hörspiele hat Ror Wolf seit 1970 veröffentlicht. Den fälligen Preis für sein außerordentliches Wirken in dieser Gattung erhielt der Dichter 1988; und zwar, in einem seltenen Fall von Weitsicht und Geschmack, für sein betörendstes und tiefstgründiges Stück.

Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nordamerika. Eine Radioballade ist das Zeugnis einer lebenslangen Liebe zum Jazz, ist Hommage an einen genialen Musiker, der sehr jung, mit 28, starb, und ist außerdem das Intimste, Zarteste, was ich von Ror Wolf kenne. Ein Stück, das mit gegebenem Material, mit Schallplatten und zeitgenössischen Berichten, freihändig umgeht, aber nicht, um die tiefere Wahrheit der Worte herauszustellen, sondern ganz im Dienste des Idols, des Kornettisten Bix Beiderbecke. Eine Helden-Legende, nichts weniger, ungescheut pathetisch, zum Platzen fröhlich bisweilen, zum Schluß von einer herzzerreißenden Tragik. Der dokumentarische Charakter, den etliche Stellen simulieren, ist als simuliert, ja als Parodie auf das Genre der Dokumentation stets kenntlich; dennoch zweifelt der Hörer keinen Augenblick daran, daß es mit Beiderbecke gar nicht anders gewesen sein kann, als der Autor behauptet.

Wolfs Stück kümmert sich nur scheinbar um eine exakte Biographie; es springt, via Rückblende, Zeitraffer, Vorschau und Slow-Motion durch die Quellen und die historisch fixierte Zeit. Beiderbecke erschafft sich ein eigenes, nahezu mythisches Kontinuum, in das alles eingegangen ist, was wir uns an romantischen Halluzinationen über die „Roaring Twenties“ ersponnen haben. Anläßlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden bekannte Wolf: „Ich hatte das Thema seit langem im Kopf, und was man nun hören kann, ist mein Beitrag zu Beiderbecke, den ich liebe. Ich liebe seine Musik.“ Und dann ein Satz, der – an der Zurückhaltung gemessen, die Wolf gewöhnlich pflegt – wie ein Geständnis wirkt: „So schreiben zu können, wie er spielt, das ist ein vorstellbares Glück.“ Nämlich so zu schreiben: nicht gemästet, ganz weich, wie im Schlaf.

Beiderbecke. Als ich die Augen wieder aufmachte, sah ich mich immer noch spielen, der Abend verging, die Nacht, ohne daß wir ein Wort darüber verloren, die Leute standen und staunten, die Töne rutschten aus meinem Kopf, es war alles so einfach, es zerriß mich beinahe vor Glück, ich glaube, ich lächelte auch ein wenig, ich dachte: ich kann nicht anders, das einzige, was ich wirklich will, ist das Spielen. – Es gibt ja neben dem Spielen noch andere Dinge auf der Welt, im Augenblick habe ich ganz vergessen, was das für Dinge sind, aber es gibt sie. Leibrooks Tuba dampfte, und Johnsons Tenorsax sägte das Dach auf, wir schwirrten alle hinaus, die Leute schauten uns hinterher, Carmichael winkte mir zu – es war schön.

„Das Radiohören“, erzählt Wolf über seine prägenden Erfahrungen mit dem Medium, „ist bis heute für mich verbunden mit einer schönen, einsamen Dunkelheit, mit der Nacht. Radio war ein nächtliches Ereignis; es hatte etwas angenehm Gefährliches, etwas zart Unerlaubtes. Und die Dunkelheit war gewissermaßen Voraussetzung für ein konzentriertes, sinnliches Hörabenteuer.“ Genau diese Situation – die schöne, einsame Dunkelheit – beschwört Beiderbecke herauf. Es ist nicht allzu spekulativ, wenn ich behaupte, daß Ror Wolf sein Idol Beiderbecke zum Helden auch deshalb gewählt hat, um mit großer Diskretion über sich selbst, über sein Selbstverständnis als Künstler, seinen Ekel vor dem Kulturbetrieb, seine tiefsten Skrupel und Selbstzweifel und, mit atemverschlagender Wehmut, über sein desperates Verhältnis zur Welt zu erzählen.

Beiderbecke. Sehen Sie: Whiteman ist wirklich nicht kleinlich – weiß Gott nicht – kein Ausbeuterboß oder so was – aber der Apparat, verstehen Sie, er ist so groß und so träge – er bewegt sich nicht – ich spüre einfach diese – die Grenzen – und was mich ankotzt, ist diese tägliche Routine, die Proben – fragen Sie mich nicht nach den Proben – manchmal geh ich gar nicht erst hin – Bu Bu Bu, immer dasselbe: Bu Bu Bu – immer wieder (…)

Die Magie, die von der Literatur Ror Wolfs ausstrahlt, hat viel mit ihrem Sound zu tun. Der rasende Rhythmus etwa von Pilzer und Pelzer ist mehr noch als an die Bilderflucht des Inhalts an die parataktische Ballung von Sätzen, an die hastige Häufung assonanter Wörter gebunden. Die sonore Melodik des Beiderbecke-Dialogs ergibt sich nicht allein aus den Musikzitaten, die ihm symbiotisch unterlegt sind, sondern aus der Musikalität der Sätze selber. Diese bis auf den Punkt genau durchgeführten Texte wollen wirken, sinnlich wirken, deshalb opfert Wolf lieber eine Zweideutigkeit als einen akustischen Effekt. Dieser Autor will laut gelesen werden. Oder gehört. Wer die nicht bloß akustische Schönheit, die Reinheit und Autonomie der Wolfschen Hörspiele, wer ihre Mustergültigkeit übersieht, der, fürchte ich, hat auch sonst von Dichtung keine Ahnung.

PS. Nicht bloß Ahnung, sondern wirklich guten Geschmack beweist übrigens die Medienstiftung der Sparkasse Leipzig. Sie wird Ror Wolf am 7. Juli den Günter-Eich-Preis 2015 verleihen. Der Dichter kann an der Ehrung, die ihn sehr freut, leider nicht teilnehmen, wird aber per Videobotschaft die wie immer richtigen Worte finden. Sobald TV- und Radiobeiträge über die Veranstaltung verfügbar sind, werde ich die entsprechenden Links hier veröffentlichen. – Nachrichten über Ror Wolf finden Sie übrigens viel zuverlässiger als bei mir auf der Website „Wirklichkeitsfabrik“ von Daniela Mett und Kai U. Jürgens. (Die seit heute endlich in meine Blogroll eingetragen ist.)


Montag, 29. Juni 2015 23:25
Abteilung: Litterarische Lustbarkeiten, Selbstbespiegelung

2 Kommentare

  1. 1

    sehr hübsch, die „hastige häufung assonanter wörter“. und natürlich: volle zustimmung zur lobpreisung des großen wolf. möge er noch lange herrn schöfflings editionspläne durch immer neue überraschende veröffentlichungen durchkreuzen!

    Das haben jetzt aber Sie gesagt! KS

  2. 2

    Hach!

    Huch? KS

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