Zeuge der Geschichte (11)
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Als der Typ im Radio beiläufig mitteilte, daß Michael Ballhaus gestorben ist, senkte ich den Blick und sah in eine Leere, für die niemand außer Ballhaus die richtige Brennweite kennt.
—Mir fiel dann ein, wie ich vor 27 Jahren im dunklen Saal auf der Kante meines Stuhls gehockt und „GoodFellas“ zum ersten Mal beglotzt hatte, wie ich diese Ultima ratio des Filmemachens, diese vollkommene Fusion von Eleganz und Kraft, Brutalität und Ironie, diese Offenbarung, diese Einlösung aller Versprechen des Kinos, diese Hohe, Höchste Schule des Sehens angestaunt hatte, atemlos, berauscht, zerschmettert. Und mir fiel ein, daß ich bei den 30 oder 50 oder 100 Malen, da ich den Film der Filme wiedersah, genauso gehockt und geglotzt habe, genauso entrückt, genauso demütig vor so viel Artistik, genauso selig, mit dergleichen Schönheit in meines Lebens kurzer Spanne beschenkt worden zu sein.
—Was die Kinematographie dem einen, einzigen Ballhaus, dem „Fliegenden Auge“, zu verdanken hat, welch unermeßlichen Einfluß seine Kunst auf die Filmkunst an sich ausgeübt hat und weshalb seine Kollaborationen mit dem bedeutendsten Regisseur der Geschichte, Martin Scorsese, Glücksfälle waren für das Medium und, keine Übertreibung: die Menschheit – darüber ließe sich ein sehr dickes Buch schreiben; aber vielleicht ist es klüger, das zu lassen.
—Lieber sah ich mir vorhin zum hundertsten oder tausendsten Mal die epochale Steadycam-Fahrt an, die Henry (Ray Liotta) und Karen (Lorraine Bracco) vom Parkplatz des „Copacabana“ durch den Hintereingang und die Kellertreppe hinab, durchs Warenlager und die Küche begleitet, Betrieb und Gewimmel auf jedem Meter, und hinaus ins Lokal bis knapp vor die Bühne, und noch mehr Gewusel, in jedem Augenblick mehr kreuzundquere Kinetik, und kein Schnitt, kein Geschummel in diesen 140 lichtschnellen Sekunden … Es ist die Quintessenz des Kinos, das Aufregendste, technisch, formal und narrativ, was jemals in bewegten Bildern zu sehen war und sein wird.
—Ich kann mir halbwegs denken, wie das gemacht wurde, kann mir vorstellen, welche Mühe es kostete, kann schätzen, wie viele Takes nötig waren, bis alles stimmte. Aber verstehen, begreifen werde ich nie, wie Michael Ballhaus dieser Schuß gelungen ist, diese Lektion für alle Ewigkeit. Und senke abermals den Blick vor dem Genie, das mir den Blick hob wie kaum ein anderes.
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Photo: „Michael Ballhaus“, by Martin Kraft [CC BY-SA 2.5],
via Wikimedia Commons
Donnerstag, 13. April 2017 10:43
Was für eine tolle Idee: Ein Buch über Scorsese UND Ballhaus!
Lieber Kay, ich weiß nicht, ob es klüger wäre, ein sehr dickes Buch nicht zu schreiben – ich weiß aber, daß ich es gerne lesen würde.
Ich habe zwar so eine Ahnung, daß Georg Seeßlen im Laufe der nächsten Woche ein ca. 700 Seiten starkes, wahrscheinlich sehr lesenswertes Werk über Ballhaus auf den Markt bringen wird, in dem sehr viele kluge Sachen stehen werden. Aber eines wird man in diesem Werk nicht finden: Sätze wie den ersten da oben (den mit der richtigen Brennweite), denn solche Sätze sind reiner Sokolowsky, der ja bekanntlich nicht über Scorsese schreiben kann, ohne persönlich zu werden. Und genau darum will ich dieses Buch irgendwann einmal lesen.
Oder gar ein Buch über Scorsese und Ballhaus und Schoonmaker und Ferretti.
Es ist nur wenige Wochen her, da habe ich das letzte mal „Gangs of New York“ gesehen. Irgendwann nach etwas mehr als zwei Stunden Laufzeit hatte ich das leise Gefühl, daß nun „mal wieder was passieren“ könnte, da nimmt mich der Film bei der Hand und sagt: „Du möchtest, dass hier mal wieder was passiert? Dann komm mal mit, mein Junge!“ Und schon geht diese letzte halbe Stunde des Filmes los, dieses völlig entfesselte Filmemachen, das mich derartig erwischte, daß ich dachte: „Okay, ich sag nie wieder was.“
Und dann fiel mir plötzlich auf, wie dicht die Geschichten von „Gangs of New York“ und „The Age of Innocence“ zeitlich beieinander liegen. Und dann dachte ich an „The Departed“ und dann… Aber über all das könnte man wirklich ein sehr dickes Buch schreiben. Allerdings: Wenn ICH das versuchen würde, dann wäre es wirklich nicht klug.
Bei Dir sieht die Sache ganz anders aus.
Ich kann warten.
(P.S.: Wie funktioniert eigentlich diese ganze Suggestionskraft der Bilder? Am Anfang des Steadycam-Shots gehen wir so selbstverständlich davon aus, dass der Gastraum des „Copacabana“ auf Straßenniveau liegt, daß wir am Ende gar nicht merken, daß Henry und Karen eben NICHT wieder „nach oben“ gehen. Wäre mir auch nicht aufgefallen, wenn Du es nicht geschrieben hättest. Gut, ich hatte die Szene ja auch erst zehnmal gesehen …)
Und wenn Du, lieber Karsten, nicht eingewendet hättest – ich würde weiterhin glauben, daß Henry und Karen bei ihrer Tour durch die Eingeweide des „Copacabana“ aufwärts zur Bühne steigen – egal wie oft ich bisher diese sagenhafte Kamerafahrt gesehen habe. Ja, denkste! Ich habe die Einstellung aus der Erinnerung erzählt, und die trügt wie ein Regierungssprecher. Ich danke Dir für die Berichtigung.
Was das Buch betrifft, das Du Dir von mir wünschst – mach ich gern, wenn sich ein Mäzen oder Mä20 dafür findet. Ich fühle mich freilich von Deiner Ansage sehr geschmeichelt und danke dafür, herzlich. KS
Donnerstag, 18. Mai 2017 21:17
Es gibt doch schon ein brauchbares Buch über Ballhaus:
https://kinogucker.wordpress.com/2017/04/13/michael-ballhaus-bilder-im-kopf/
Hm – ist das nun eine Empfehlung oder eine versteckte Beleidigung? KS