Zeuge der Geschichte (28)


Als ich vom finalen Platzverweis des Fußballhelden Uwe Seeler
erfuhr, wußte ich sofort: Mein HSV ist Geschichte.

Dann erinnerte ich mich, wie ich vor gut 20 Jahren in einer VIP-Lounge des Volksparkstadions hockte, umgeben von lauter Blasierten und Blondierten, Pinseln und Platzhirschen – und wie gegen Ende des Spiels plötzlich Herr Seeler in unserer Loge auftauchte, sich auf den Balkon stellte und mit seinem Verein, mit seinen Jungs da unten fieberte und litt. Wie er jedes Ereignis auf dem Feld so innig nachvollzog, als stünde er mittendrin, als wäre da kein Drohnenschwarm, der ihn lungernd umbrummte. Als gäbe es für ihn nichts auf der Welt als das Spiel und den Ball, den rollenden, prallenden, fliegenden Ball.

Bei dieser Ansicht einer vollkommenen Ekstase bereute ich kurz, einst einen meiner besseren Witze auf Kosten dieses Mannes gerissen zu haben. Nach Abpfiff verkrümelte ich mich, so schnell ich konnte; und heute weiß ich gar nicht mehr, gegen wen der HSV damals spielte und wie die Sache endete. Aber Uwe Seeler auf dem Balkon ist in meinem Gedächtnis geblieben. Und lieber vergäße ich alle Romane von Thomas Mann als diesen erstaunlichen, verzaubernden Anblick.

(Der Witz ging übrigens so: „Uwe Seeler, wie beurteilen Sie die Aussichten der deutschen Nationalmannschaft bei der kommenden WM?“ – „Ich glaubä, daß unsärä Jungäns gutä Schangsän habän, den Titäl zu holän, wänn sie das Ends-piel gewinnän.“)

Photo (Ausschnitt):
„Trainingslager der Deutschen Fußballnationalmannschaft
in der Sportschule Malente (Kiel 77.610)“,
by Stadtarchiv Kiel [CC BY-SA 3.0 DE],
via Wikimedia Commons


Donnerstag, 21. Juli 2022 22:21
Abteilung: Zeuge der Geschichte

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