Sie nennen es Lobotomie
Von nichts eine Ahnung zu haben, aber davon eine Menge – das ist, seit es ihn gibt, das Markenzeichen des Leitartikelschreibers. Als der Unfug begann, hat der Verleger selbst eine Meinung hinterlassen, die man sich denken kann, ohne sie lesen zu müssen. Dann wurde das Geldverdienen zu zeitraubend fürs Moraltrompeten und an die Stelle des Druckmaschi-
nenbesitzers trat der Chef-
redakteur. Weil der aber mittlerweile wie alle leitenden Angestellten die Zeit in infiniten Konferenzen verbringt, delegiert er die Besinnungstexte an Kräfte seines Vertrauens, und die sind entsprechend autonom in Haltung und Ansicht.
Bei „Spiegel online“, wo man Nachrichten von Kommentaren kaum noch unterscheiden kann, ist die Demonstration der Gesinnung, die der Leser sowieso hat, zeitgemäß „outgesourced“ worden. Als Gegengewicht gleichsam zum brachialen Neoliberalismus der Redaktion dürfen sechs sieben Autoren im Wechsel die Rubrik „S.P.O.N – Die Kolumnisten“ volltexten. Sie sind dabei nie so rechts (Jan Fleischhauer) oder „im Zweifel links“ (Jakob Augstein), daß es die Geschäftsgrundlagen erschüttern könnte. Immerhin haben sie den Dreh heraus, mit irgendeiner Pseudo-
provokation die Leserhammel gegen den Zaun zu treiben. Das nennt sich dann Pluralismus der Meinungen und ist doch bloß die jämmerliche Travestie einer Debatte. Aber man darf nicht zuviel erwarten von einem News-Portal, das seine Nachrichten mit Schlagzeilen wie diesen versieht: „Italien fürchtet Montis neue Giftliste“, „Und es hat bumm gemacht“, oder „Keine Macht dem Kalorien-Quickie“.
Im Kreis der sechs sieben Meinungsmachthaber ist Sascha Lobo zuständig fürs digitale Zauberreich. Was ihn dazu prädestiniert hat, dürfte klar sein: Er spielte für Vodafone das Werbemännchen und hat eine Firma mitbegründet, die Weblogs vermarktet. Überdies ist er jemand, der bestimmt nicht „tut mir leid, keine Zeit“ riefe, wenn eine Meinung gebraucht wird zu „umfallender Sack Reis verwüstet China“ oder „beißende Männer bedrohen Hundebestand“. Dergleichen Kolumnen schreiben sich, wenn einer ein so erbärmlicher Stilist ist wie Lobo, im Nu herunter, und Allerweltsüberzeugung schadet sowieso nie, wenn die Tabakindustrie einen hippen Promoter für ihre gesunden Produkte sucht.
Am 3. Juli war Lobo wieder bei „S.P.O.N.“ an der Reihe, um mit einer Weisheit zu glänzen, die sich mit dem Löffel nicht fressen läßt, weil der in solchem Gesülz einfach stecken bleibt. „Was hat die Krise mit dem Netz zu tun?“ fragt die „Mensch-Maschine“ in der Überschrift. Auf dumme Fragen gibt es immer eine kluge Antwort, hier lautet sie: gar nichts. Aber Sascha Lobo will nicht klug sein, sondern klug schnacken, und darum holt er zu einem gefühlt 1.000.000 Wörter langen Sermon über Demokratie, Parlamentarismus, Europa und Social networks aus, in dem freilich wenig mehr steht als eben: gar nichts. Doch mit welchem Geräusch!
Der leider verstorbene Loriot wird zitiert (und klugscheißerisch korrigiert), damit wiederum aus dem Kürschner zitiert werden kann, der, laut Lobo, „eine sehr frühe Frühform“ des Internet gewesen sei:
„[Das Universalkonversationslexikon] beinhaltete neben dem umfangreichen Lexikonteil Informationstafeln aller Art, Geschichtsabrisse, Karten, händisch [sic!] abgezeichnete Photos bekannter Leute sowie Hundebilder, die Vorläufer der heutigen Katzenbilder. Und es funktionierte mit Verweisen. Nicht nur innerhalb des Lexikons, sondern auch darüber hinaus. Viele Einträge wurden ergänzt durch Verweise auf Quellen und weiterführende Literatur: ‚Bodensee, Schwäbisches Meer. […] Lebhafte Schiffahrt. Reich an Fischen. Friert selten zu. Vgl. Schlatterer, Die Ansiedlungen am Bodensee. 1891. Benck 1902.‘“
Angesichts solcher Zeilenschinderei friert allerdings dem Leser das Gehirn zu, und darin liegt vermutlich der Sinn der Übung. Wer fragt dann schon noch, wo in dieser sehr frühen Frühform des Internet die Facebook-App und der Mail-Client steckte, oder weshalb Hundebilder heute aus der Mode sein sollen. Lobos Angeberei mit Kürschner-Zitaten dient überdies der Einschüchterung – wenn ein Autor diese alte Schwarte kennt, dann muß er ja wohl alles wissen! Das ist zwar nicht der Fall. Doch auf jeden Fall weiß er alles besser:
„Natürlich steht auch Europa in diesem frühen Internet drin: ‚Europa, kleinster Erdteil (9.913.400 qkm) der Alten Welt, vermöge seiner geistig. Kultur wichtigster Teil der Erde‘.
Es handelt sich um die Kürschner-Ausgabe von 1926, und Eurozentrismus war damals der Nationalismus des liberaleren Teils der gebildeten Stände.“
Nein. Er war der Nationalismus der gesamten hiesigen Bourgeoisie, die seit 1871 davon träumt, Europa unter deutsche Verwaltung zu stellen. Die „gebildeten Stände“ genehmigten sich aus genau diesem Grund zwei Weltkriege, und wie man zum Beispiel von Volker Kauder erfahren darf („Auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen“), beziehungsweise an der chauvinistischen Europa-Politik der Bundesregierung ablesen kann, hat die eingeborene herrschende Klasse ihren Traum von einem deutsch verwalteten Europa noch lange nicht vergessen. Aber was scheren Sascha Lobo solche Petitessen? Er übt sich lieber in Schlaumeierei:
„Der Eurozentrismus war für viele eine praktische Angelegenheit, weil sich so das Gefühl einer gewissen Weltoffenheit verbinden ließ mit Teilaspekten von Rassismus und Xenophobie, im Prinzip also wie heute auch noch.“
Es ist das pure Geblubber, man könnte es als „Sascha-Bubble-Tea“ auf Flaschen ziehen. Dinge, die noch unteilbarer sind, als Deutschland es jemals war, bekommen plötzlich „Teilaspekte“, und „im Prinzip“ ist Weltoffenheit praktisch, sofern man sie nicht praktiziert.
Doch nicht allein in der Geschichte der Deutschen, sondern auch in der des Deutschen kennt Lobo sich nicht aus:
„Abseits des Superlativs ist Kürschners Definition allerdings aus purem Gold. Insbesondere durch die wunderschöne Präposition ‚vermöge‘, die abstammt von ‚Vermögen‘. Und um das geht es in der Euro-Krise ja doppelt: um Vermögen (Geld) und um vermögen (die nötige Kraft aufbringen).“
Ursprung der ziemlich unschönen und altfränkischen Präposition ist natürlich nicht das „Vermögen“, sondern das mittelhochdeutsche Verb „mögen“, doch für eine Pointe opfert der Leitartikler gern die öden Fakten. Sie interessieren ihn sowieso nicht:
„Die Euro-Krise ist in erster Linie eine politische Krise und erst deshalb und danach eine Finanzkrise, das Debakel ist ein politisch produziertes.“
Er hat tatsächlich keinen Schimmer. Er quasselt einfach drauf los respektive nach, was ihm die ähnlich schimmerlosen Herrschaften aus dem neoliberalen Wirtschaftsteil vorgebetet haben. Dabei muß man bloß die Grundrechenarten beherrschen, um zu kapieren, daß die finanzielle Misere, in der die Budgets der EU-Staaten stecken, von den Luft-
buchungen und Pilotenspielen der europäischen Banken verursacht wurden. Um das Finanzcasino vor der Sprengung zu retten, haben sich alle Nationen der Euro-Zone maßlos verschulden müssen. Und weil vor allem die deutschen Eliten sich weigern, den Euro zu einer echten Gemeinschaftswährung zu machen und Dampf aus dem Zinstopf zu nehmen, stürzt ein EU-Mitgliedsland nach dem anderen über die sozialisierten Spekulantenschulden in die Depression.
Die europäische Krise ist ein Produkt entfesselten, neoliberal zu quatschen: „deregulierten“ Kapitalismus, und um das zu wissen, muß man weder Karl Marx noch Paul Krugman studiert haben, sondern einfach nachlesen, was die Zockerei die europäischen Steuerzahler kostet: Laut EU-Kommissar Joaquín Almunia allein von 2008 bis 2010 unfaßbare 1,6 Billionen Euro. Wollte Sascha Lobo ernsthaft über die Ursachen des europäischen Desasters reden, dann hätte er hier ansetzen und sich ein oder zwei Gedanken machen müssen über ein System, das gar nicht anders kann, als regelmäßig mit Volldampf gegen die Wand zu krachen. Doch dafür ist er sich zu fein. Lieber beschwört er einen Popanz herauf:
„Europa ist nicht Europa für seine Wirtschaftskraft und seine Finanzmärkte. Europa ist Europa ‚vermöge seiner‘ verdammten ‚geistig. Kultur‘.“
Das Kraftwort macht den Quark nicht stärker, allenfalls breiter. Ebenso dieses Geseier:
„Die ‚geistig. Kultur‘ […] Europas ist der Diskurs, die Diskussion, das Gespräch in allen Farben und Formen, die Macht des ‚Laßt uns darüber reden‘.“
Ich erkenne eine Sonntagsrede, auch wenn sie am Dienstag gehalten wird. Und ich habe mich lange genug mit der Geschichte dieses Kontinents, der geographisch gar keiner ist, beschäftigt, um eines sicher zu wissen: Die „geistig. Kultur“ Europas äußerte sich immer in der Konkurrenz, dem Neid, der Gier in allen Farben und Formen, und in der Macht des „Laßt uns einander die Köpfe einschlagen“. Randy Newman hat das gültig in Wort und Ton gesetzt, in seinem All-time-classic „The Great Nations of Europe“.
Es folgen in Lobos Europa-Rettungskonzept die üblichen binären Heilsversprechen:
„Die akute Euro-Krise und wohl auch ihre Lösung mag [sic!] wenig mit dem Internet zu tun haben. Aber was danach kommt, hat sehr wohl mit dem Netz zu tun, denn es kann nach Art des europäischen Hauses nur aus der politischen Diskussion entstehen.“
Ich bin fest überzeugt: Wer Phrasen wie „das europäische Haus“ verwendet, dessen Fähigkeit zur politischen Analyse und Handlungs-
anweisung ist etwa so ernst zu nehmen wie mein Talent zur Blog-
Vermarktung. Man muß sich deshalb gar nicht wundern, daß der Wolf den Schwanz einzieht, wenn‘s um die Realisierung seiner Utopie geht:
„Vor hundert Jahren hätte es sich vermutlich um eine Revolution gehandelt, heute ist wahrscheinlicher und wünschenswerter: die Weiterentwicklung der parlamenta-
rischen Demokratie, die eine Digitale Demokratie sein wird.“
Daß ein arrivierter Autor und Reklameberater wie Sascha Lobo keine Lust auf die Revolution hat, ist leicht zu verstehen: Nur wer nichts zu verlieren hat, tut sich leicht damit, etwas zu opfern. Und es ist sicherlich kein Ausweis übler Gesinnung, wenn Lobo an seine Leser appelliert, ihre politischen Interessen selbst in die Hand zu nehmen und sich gegen den Zerfall der europäischen Gemeinschaft zu stemmen. Aber was ist das alles wert, wenn Lobo nicht über die reden mag, die in dubio nicht bloß Europa, sondern die Welt in Stücke schlagen, um sie in Kapital verwan-
deln zu können? Ich muß mich leider wiederholen: gar nichts.
Um ein paar naheliegende Einwände vorwegzunehmen und ihnen sogleich zu widersprechen: Ja, ich mache hier selbst sehr viele Worte, um dem Geschwafel Sascha Lobos zu entgegnen, und, ja, man könnte sein Geschwurbel auch ignorieren und sich statt dessen um wichtige Themen kümmern, um Igel zum Beispiel, die gern Science-Fiction-Romane lesen. Andererseits: Nein, es ist schon notwendig, einen Schwaller als solchen anzurempeln, wenn er in derart exponierter Position schwallt, schwafelt und schwurbelt wie Sascha Lobo in „S.P.O.N.“.
Mit seiner windelweichen Bestandsaufnahme der Gefahr, in der die großen Nationen Europas sich befinden, und seiner einem Windelinhalt ähnelnden Lösung für das, was die EU gefährdet, begibt sich Lobo in eine Rolle, die ihn selbst als Risiko ausweist. Denn er wird von einem Publikum wertgeschätzt, das jung und tatkräftig genug ist, um in die betonierten Verhältnisse Bewegung zu bringen. Doch wie von jeher jeder bürgerliche Leitartikler lenkt Sascha Lobo ab von allem, was der Fall ist, und bramar-
basiert über eine Rettung, die es nicht geben kann, so lange die Verhältnisse selbst nicht zur Disposition gestellt werden. Daß er mit seinem Nebelkerzenwurf nicht ausnahmsweise daneben liegt, sondern sich inzwischen sehr darin gefällt, für „Spiegel online“ den staatstragen-
den Subversiven zu spielen (oder den oppositionellen Opportunisten, suchen Sie es sich aus), belegt sein Wutausbruch über die Kritiker Joachim Gaucks anläßlich dessen Nominierung zum Bundespräsident-
schaftskandidaten, „Gauck und die Stille Post im Netz“.
Da war plötzlich alles, was Lobo sonst bejubelt – die kritische Öffent-
lichkeit, die „vernünftige Beleidigungskultur“, die Schwarmintelligenz –, ein einziger Sauhaufen beziehungsweise Trolltrupp. Die Mehrheit der deutschen Medien hatte sich darauf geeinigt, Gauck messianische Eigen-
schaften zuzuschreiben, und Sascha Lobo wollte nicht hintanstehen. Also haute er auf jeden Kopf ein, der ihn noch gebrauchte, und denunzierte das bißchen Internet-Opposition gegen den kriegsgeilen und sozial-
staatsfeindlichen Pfaffen als „Shitstorm“, obwohl die Kacke ganz woanders dampfte, nicht zuletzt in den zahlreichen Gauck-Elogen auf „Spiegel online“. Das kommt wohl davon, wenn einer sein Leben den Trends verschrieben hat und unbedingt einen Prophetendarsteller wie Matthias Horx beerben will.
Albrecht Müller und seine löblichen „Nachdenkseiten“ reden in solchen Fällen gern von „Meinungsmache“. Ich bin gnädiger. Ich sehe bloß einen Wolf, der sein Chappi schätzen gelernt hat und seither mit den Königs-
pudeln kläfft.
Photo: Seth Mazow / http://commons.wikimedia.org