Sie nennen es Lobotomie
Samstag, 7. Juli 2012 19:40
Von nichts eine Ahnung zu haben, aber davon eine Menge – das ist, seit es ihn gibt, das Markenzeichen des Leitartikelschreibers. Als der Unfug begann, hat der Verleger selbst eine Meinung hinterlassen, die man sich denken kann, ohne sie lesen zu müssen. Dann wurde das Geldverdienen zu zeitraubend fürs Moraltrompeten und an die Stelle des Druckmaschi-
nenbesitzers trat der Chef-
redakteur. Weil der aber mittlerweile wie alle leitenden Angestellten die Zeit in infiniten Konferenzen verbringt, delegiert er die Besinnungstexte an Kräfte seines Vertrauens, und die sind entsprechend autonom in Haltung und Ansicht.
Bei „Spiegel online“, wo man Nachrichten von Kommentaren kaum noch unterscheiden kann, ist die Demonstration der Gesinnung, die der Leser sowieso hat, zeitgemäß „outgesourced“ worden. Als Gegengewicht gleichsam zum brachialen Neoliberalismus der Redaktion dürfen sechs sieben Autoren im Wechsel die Rubrik „S.P.O.N – Die Kolumnisten“ volltexten. Sie sind dabei nie so rechts (Jan Fleischhauer) oder „im Zweifel links“ (Jakob Augstein), daß es die Geschäftsgrundlagen erschüttern könnte. Immerhin haben sie den Dreh heraus, mit irgendeiner Pseudo-
provokation die Leserhammel gegen den Zaun zu treiben. Das nennt sich dann Pluralismus der Meinungen und ist doch bloß die jämmerliche Travestie einer Debatte. Aber man darf nicht zuviel erwarten von einem News-Portal, das seine Nachrichten mit Schlagzeilen wie diesen versieht: „Italien fürchtet Montis neue Giftliste“, „Und es hat bumm gemacht“, oder „Keine Macht dem Kalorien-Quickie“.
Abteilung: Kaputtalismus, Undichte Denker | Kommentare (0) | Autor: Kay Sokolowsky