Die 55. Seite

… oder: Das literarische Geburtstagsorakel

Wenn ein Mann ein Jubiläum begeht, das eine Schnapszahl enthält, dann darf er, glaube ich, etwas weniger Nüchternes tun und den Status quo sowie evtl. die nahe Zukunft aus jenen Büchern lesen, die er liebt wie sich selbst.

Und zwar immer aus einem Absatz auf der gedruckten Seite 55. Zum Deuten der Zufallsbotschaften hat unser Mann dann 52 Wochen Zeit, möglicherweise 55, schließlich ist er nicht mehr der Schnellste.

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Arno Schmidt

„Und überdem hätten die Herrschaftn sich doch wohl waschn dürfn; auch die Zeehne putzn. – Und den Korkn=hintn etwas fester schteckn !“ fügte ich ärgerlich hinzu; denn meinem Herrn Nachbarn flog er ebm, mit gut hörbarem POPP, heraus. (Und er lachte noch, froh der eig‘nen Kraft, rauh & cis=Taunensisch : ‚Wir sind die Nieder=Saxn !‘
KAFF auch Mare Crisium (1960)

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Olaf Stapledon

Man kam ferner überein, all jene Rundfunkangestellten zu entlassen, die verdächtig waren, mit derart schädlichen Idealen wie dem Pazifismus oder der Freiheit der Meinungsäußerung zu sympathisieren. Darüberhinaus wurden die Soldaten mit der Bewilligung eines staatlichen Mutterschaftszuschusses, der Einführung einer Junggesellensteuer und der regelmäßigen Ausstrahlung militärischer Propaganda beruhigt.
Der Sternenschöpfer (1937)

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Ror Wolf

… und natürlich nahmen die Erschütterungen der Erde jetzt zu, ein minimales Rollen oder Rumpeln aus der Ferne, die Oberfläche der ganzen Umgebung in einer wellenartigen Bewegung, der Himmel in einer ja dunkelroten jawohl Färbung.
Pilzer und Pelzer (1967)

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Cordwainer Smith

Sie war die Schwester, die er niemals gehabt hatte. Sie war seine Mutter, als die noch jung gewesen war.
Rückkehr nach Mizzer (1966)

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Herman Melville

Zuletzt stand ich auf, kleidete mich an und ging auf den Strümpfen hinunter, meine Stiefmutter zu suchen. Ich warf mich ihr zu Füßen und bat sie um die besondere Gnade, mich für mein Betragen mit einer tüchtigen Tracht Prügel oder etwas anderem zu bestrafen, statt mich dazu zu verdammen, eine so unerträglich lange Zeit im Bett zu liegen.
Moby Dick (1851)

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Iain Banks 

Balveda schwieg eine Weile. Ihr Gesicht war ruhig, nachdenklich, vielleicht traurig. Dann nickte sie. „Tatsächlich heißt es, beim Kriegsführen bestehe die Gefahr, daß man anfange, dem Gegner zu ähneln.“ Sie zuckte die Achseln. „Wir können nur hoffen, daß sich das vermeiden läßt.“
Bedenke Phlebas (1987)

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Vladimir Nabokov

Ja, die Materie ist alt und müde geworden, und wenig ist von jenen legendären Tagen geblieben – ein paar Maschinen, zwei oder drei Springbrunnen –, und niemand trauert der Vergangenheit nach, und selbst der Begriff der Vergangenheit hat sich gewandelt.
Einladung zur Enthauptung (1938)

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Eckhard Henscheid

Hermann war seiner Zukunft nun doch wieder recht unsicher.
Maria Schnee (1988)

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Intermezzo: Mister Cole schenkt mir ein Ständchen

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Hermann Peter Piwitt

Eine Produktion, die sich nach den Bedürfnissen der Menschen richtet, müßte auf der Stelle aufhören, einen großen Teil der Waren zu produzieren, für die sie in den Medien wirbt. (Wieder)hergestellt werden müßten statt dessen jede Gegenstände und Qualitäten, mit denen bisher für jene Waren geworben wurde und die die Werbung mit tiefenpsychologischem Aufwand als derzeit wahre Ziele unserer Wünsche ausgemacht hat. Der Produzent, der das erfahrungsgemäß am besten und billigsten besorgt, ist die Produktivkraft Natur.
Boccherini und andere Bürgerpflichten (1976)

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Jürgen und Thomas Roth

Ein Mauersegler war durch den Spalt des gekippten Fensters geschnellt und hatte den Weg nicht mehr hinausgefunden; hatte sich, vor lauter Furcht panisch hin und her stürzend und vermutlich gegen die Wände und Bücherregale prallend, den Kopf gestoßen und war irgendwann entkräftet und resigniert auf dem Fensterbrett gelandet.
Wo er bebend, lautlos, vibrierend kauerte. Ein Knopf von Lebewesen, der uns anblickte so traurig, wie wir das noch nie gesehen hatten.
Kritik der Vögel (2017)

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Theodor W. Adorno

Es ist die Höflichkeit Prousts, dem Leser die Beschämung zu ersparen, sich für gescheiter zu halten als der Autor.
Minima Moralia (1951)

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Arthur Schopenhauer

Denn, wie sollte nicht auch den Sophisten das Mittel bekannt gewesen seyn, durch welches Jeder sich Jedem gleich setzen und selbst die größte intellektuelle Ungleichheit augenblicklich ausgleichen kann: es ist die Beleidigung. Zu dieser fühlt daher die niedrige Natur eine sogar instinktive Aufforderung, sobald sie geistige Ueberlegenheit zu spüren anfängt.
Parerga und Paralipomena I (1851)

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Italo Svevo

Die anständigen Frauen seien diejenigen, die es verstünden, den meistzahlenden Käufer zu finden und ihre Liebe nur dann zu gewähren, wenn sie dabei auf ihre Rechnung kämen. Während er dies aussprach, hielt er sich für einen überlegenen Immoralisten, der die Dinge so sieht, wie sie wirklich sind, und der sie auch gar nicht anders haben möchte. Die mächtige Gedankenmaschine, als die er sich immer betrachtet hatte, war in Bewegung gesetzt. Eine Woge des Stolzes durchflutete seine Brust.
Ein Mann wird älter (1898)

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Gustave Flaubert

Salammbô trat an den Rand der Terrasse. Einen Augenblick durchliefen ihre Blicke den Horizont, dann senkten sie sich auf die schlummernde Stadt. Sie stieß einen Seufzer aus, der ihre Brüste hob und das lange weiße Schleppkleid ohne Spange und Gürtel, das ihren Körper umfloß, von oben bis unten wallen ließ. Ihre Sandalen mit den hochgebogenen Spitzen verschwanden unter einer Fülle von Smaragden, und ihr loses Haar war von einem Netz aus Purpurfäden umgeben.
Salammbô (1862)

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Leo Tolstoi

„Was ist das für eine Art, so lange sitzenzubleiben!“ sagte die Gräfin, nachdem sie ihren Besuch hinausbegleitet hatte.
Krieg und Frieden (1869)

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J. R. R. Tolkien

Das ist nur eine kleine Auswahl der Geschenke, die vorbereitet worden waren. In Bilbos Behausung hatten sich im Laufe seines langen Lebens allerhand Dinge angesammelt. Hobbithöhlen waren im allgemeinen mit Dingen vollgestopft; die Sitte, so viele Geburtstagsgeschenke zu machen, war weitgehend daran schuld.
Der Herr der Ringe, Bd. 1: Die Gefährten (1954)

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Gert Ockert

Die Siedlung, in der ich nun und immerhin ein Elfteil meiner Lebenszeit zu Hause bin, wurde im selben Jahr zusammengeschraubt wie ich selbst, 1963. Anzunehmen, daß die Bäume an unserer Straße zur gleichen Zeit gesetzt wurden und kaum älter sind als ich.
Das ergibt eine seltsame Sympathie, vielleicht Komplizenschaft zwischen den Bäumen und mir. Und wenn ich in ihre zwei Etagen hoch getürmten Kronen sehe, kommen mir meine 55 Sommer, mein Wachsen, meine Geschichte viel erhabener vor, als sie gewesen sind, und ich erlaube mir den nicht besonders netten Gedanken: „So alt wie wir muß eins erst mal werden!“
Beim Blick in den Badeschrankspiegel vergeht dieser Hochmut natürlich sofort.
Aphone Aphorismen, Bd. 2 (2018)


Photo (Aufmacher): „Replica of oracle turtle shell
with ancient Chinese oracle scripts“,
by User:Para [GFDL
or CC-BY-SA-3.0],
via Wikimedia Commons

7 Kommentare

  1. 1

    Na dann herzlichen Glückwunsch! Eine hübsche Idee, so ein Geburtstagszitatenkranz. Aber das letzte, Hand aufs Herz: steht das wirklich auch auf einer Seite 55?

    Ich danke für den Glückwunsch! – Was das Ockert-Zitat betrifft: Eigenartigerweise steht in diesem eigenwilligen Buch JEDER Text auf Seite 55. Es ist mir z. Zt. zu heiß, um darüber nachdenken zu wollen bzw. können. KS

  2. 2

    Ansteckend. Hier mein erster Griff:

    „Willkommen, Landsmann“, stieß Tarantjew hervor und streckte Oblomow die zottige Hand entgegen. „Was liegst du die ganze Zeit herum wie ein Klotz?“
    „Nicht zu nahe, nicht zu nahe: du kommst aus der Kälte!“ sagte Oblomow und hüllte sich in seine Decke.
    „Was phantasierst du da, aus der Kälte?“ trompetete Tarantjew. „Na, nun nimm schon die Hand, wenn man sie dir reicht! Fast zwölf Uhr, und er wälzt sich noch im Bett!“
    Iwan Gontscharow, „Oblomow“ (1859)

    Und Glückwunsch!

    Grazie mille für Ihren Glückwunsch und dieses herrliche, geradezu gruselig auf mich passende Zitat! – Ob ich mir mein Literaturorakel evtl. patentieren lassen sollte? Bevor Denis Scheck die Idee vermarktet? KS

  3. 3

    Autsch. Vielleicht warten Sie ein Weilchen, bevor Sie diesen Kommentator wieder wg. angeblicher Gescheitheit loben …

    Lange genug gewartet? KS

  4. 4

    Bei diesen Geburtstagszitaten bekommt man richtig Lust, die eigenen Lieblingsstellen zu zitieren. Stattdessen gratuliere ich herzlich zum 55sten und erwähne nur (tief beeindruckt) Ihren feinen Beitrag zum 81sten des unwahrscheinlichen Ror Wolf, denn einiges daraus würde ich gern und fast wörtlich über Ihre Arbeit und deren Wirkung auf mich zitieren. Schönen Dank dafür.

    Und Ihnen – leider sehr spät – herzlichen Dank für Ihren schönen Geburtstagsgruß! KS

  5. 5

    Sehr geehrter Herr Sokolowsky,
    als recht regelmäßiger Leser Ihres Blogs und Ihrer Beiträge für „Konkret“ möchte ich nicht anstehen, ebenfalls – wenn auch reisebedingt verspätet – herzlich zu gratulieren und mich bei dieser Gelegenheit für Ihre Texte und Anregungen zu bedanken.
    Dem großartigen Absatz-Orakel füge ich gern einen passenden Abschnitt aus meiner Ferienlektüre hinzu:

    Jean-Henri Fabre
    „Was ist denn das für einer, der da so eilig dem Haufen zutrippelt, zweifellos befürchtend, er komme zu spät? Seine langen Beine bewegen sich rasch und ruckartig, als würden sie von einer Mechanik angetrieben, die das Insekt in seinem Bauche verbirgt; die kleinen, fuchsroten Fühler spreizen ihren Fächer, ein Zeichen seiner aufgeregten Begehrlichkeit. Er kommt, er ist ans Ziel gelangt, nicht ohne einige seiner Tischgenossen über den Haufen geworfen zu haben. Das ist der Heilige Pillendreher, ganz in Schwarz gekleidet, der größte und der berühmteste unserer Mistkäfer. Nun nimmt er Platz am Tisch, inmitten seiner Brüder, die gerade daran sind, mit dem flachen Teil der langen Hinterbeine ihrer Kugel die letzte Formung zu geben, oder sie mit einer letzten Schicht Materials zu bereichern, bevor sie sich mit ihr zurückziehen, um in Frieden die Früchte ihrer Arbeit zu genießen.“
    (Jean-Henri Fabre, Das offenbare Geheimnis. Zürich (Diogenes) 1989. Auswahl von Texten aus: J.-H. Fabre, Souvenirs entomologique. Hrsg. und Übers. von K. Guggenheim und A. Portmann.)

    Ich wünsche Ihnen auch weiterhin alles Gute und besten Erfolg mit Ihrer Arbeit!

    Für Ihre lieben Wünsche danke ich herzlich – und ebenso für das phantastische Zitat! (Und für den monatelang verzögerten Dank bitte ich Sie um Pardon.) KS

  6. 6

    Lieber Herr Sokolowsky,

    Happy belated birthday,
    https://m.youtube.com/watch?v=tAG2cCGbQi0

    Leider habe ich meine drei Lieblingsbücher nicht vorrätig. Bin aber auf das Resultat gespannt.

    Lieber Herr Schett, ich habe meine drei Lieblingsbücher auch nie vorrätig, weil: die Titel ändern sich fast täglich. – Aber für diesen hinreißenden Trickfilm danke ich Ihnen so innig, wie ich nur kann. Ich habe sogar ein bißchen geweint vor Glück und Verzauberung. KS

  7. 7

    „Das ist geschmacklos!“ sagte er, erhob sich schnell und trat zum Fenster, „Begreifen Sie denn nicht, daß Sie Unsinn reden?“
    Er wollte sanft und höflich fortfahren, aber plötzlich ballte er gegen seinen Willen die Fäuste und erhob sie hoch über den Kopf.
    „Lassen Sie mich zufrieden!“ schrie er außer sich, flammendrot und am anzen Körper zitternd.
    „Hinaus! Alle beide hinaus, beide!“
    (A.Tchechow; Krankenzimmer Nr.6; 1892)

    Au ja, das paßt BESTENS in die Sammlung – danke dafür! KS

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