Die Strenge der Länge


Es gab und es gibt viele Schlauberger, die es für einen der größten Fehlgriffe der Akademie zu Stockholm, wo nicht gar eine Albernheit halten, daß der Literaturnobelpreis im Jahr 1902 an den Historiker Theodor Mommsen
für sein Lebenswerk Römische Geschichte verliehen wurde. Dies sei, so die Klugschwätzer, doch gar keine schöne Literatur, sondern bloße Geschichtsschreibung und Mommsen mitnichten ein Poet, sondern, bestenfalls, ein Nacherzähler.

Wer freilich unter schöner Literatur sämtliche Zeugnisse begreift, die aus der Sprache für die Sprache geschaffen sind, und als Dichter alle, die ihre Sätze wie Bildwerke bauen und kein einziges Wort nachlässig, sondern einer Gemme gleich behandeln: Der wird Dichtung nicht auf gewisse Gattungen beschränkt, sondern überall sehen, wo Sentenzen stehen wie aus Marmor gemeißelt und die vernutztesten Wörter klingen, als wären sie soeben erst erfunden worden. Also wie bei Mommsen.

Unter den Literaturnobelpreisträgern deutscher Sprache ist er nicht etwa der, welcher ihn am wenigsten verdiente, sondern im Gegenteil: der stärkste Stilist; der, dessen Lektüre am meisten lohnt, weil sie am meisten kostet – sofern man Konzentration auf fremde Gedanken und Hingabe an die Lektion unter dem Posten „Kosten“ verrechnen will –; der, wie ich begründet meine, Autor mit dem tiefsten Verständnis für sprachliche Mittel und mit dem höchsten Begriff von Grammatik und Syntax.

Zeitgenössische Leser tun sich zweifellos schwer mit Mommsens komplexer Satzarchitektur und seiner mangelnden Rücksicht auf die unselige Flüchtigkeit und Vergeßlichkeit, zu welchen die akute Stammel- und Gammelrhetorik der Qual.medien und der asozialen Netzwerke das Publikum verzogen haben. Lernwillige freilich können sich an Mommsens Knappheit, die noch seine längsten Sätze prägt, zum aufmerksamen Lesen neu oder wieder schulen. Der große Schriftsteller fordert höchste Konzentration, indem er so konzentriert wie möglich formuliert, und er bestraft jede Lässigkeit des Lesers mit dem schlechten, doch gerechten Gefühl, zu dumm für eine Prosa zu sein, die in mächtigen Sätzen große Gedanken abschreitet und dennoch so kurz wie nur denkbar lange Perioden gestaltet.

Um zu demonstrieren, wie durchaus dichterisch und kunstvoll Mommsen operiert, zerlege ich seine Wortgetüme in die freien Verse, die der Takt vorgibt:

Nach den griechischen wie
nach den deutschen Rechten
ist der erwachsene tatsächlich selbständige Sohn
auch rechtlich von dem Vater frei;
die Macht des römischen Hausvaters
vermag bei dessen Lebzeiten
nicht das Alter, nicht der Wahnsinn desselben,
ja nicht einmal sein eigener freier Wille aufzuheben,
nur daß die Person des Gewalthabers wechseln kann;
dann allerdings kann das Kind
im Wege der Adoption
in eines andern Vaters Gewalt kommen,
die Tochter durch eine rechte Ehe aus der Hand des Vaters
übergehen in die Hand des Mannes
und aus ihrem Geschlecht und Gottesschutz
in das Geschlecht und den Gottesschutz
des Mannes eintretend,
ihm nun untertan werden,
wie sie es bisher ihrem Vater war.

Irgendwo bemerkt Karl Kraus – ein anderer Meister der strengen Länge –, der beste deutschsprachige Stil rühre aus der Kenntnis des Lateinischen; und so recht Kraus hat, so bedauerlich ist es, daß er nicht Mommsen als Kronzeugen seines Plädoyers anführt, denn wieviel italische Elastizität steckt in einem oberflächlich granitenem Satzblock wie diesem:

War auch der bei weitem größte Teil der Patrizier reich
begütert,
so fehlte es doch natürlich auch unter den Plebejern nicht
an reichen und ansehnlichen Familien,
und da der Senat, der schon damals vielleicht
zur größeren Hälfte aus Plebejern bestand,
selbst mit Ausschließung der patrizischen Magistrate
die finanzielle Oberleitung an sich genommen hatte,
so ist es begreiflich, daß alle jene ökonomischen Vorteile,
zu denen die politischen Vorrechte des Adels mißbraucht
wurden,
den Reichen insgesamt zugute kamen
und der Druck auf dem gemeinen Mann
umso schwerer lastete,
als durch den Eintritt in den Senat
die tüchtigsten und widerstandsfähigsten Personen
aus der Klasse der Unterdrückten
übertraten in die der Unterdrücker.

Wo ist hier Poesie, wo Sprachmusik und Wortmagie? könnte fragen, wer sich allein auf den Inhalt fixiert und daher in der dem Thukydides und dem Tacitus huldigenden, majestätischen Nüchternheit des Chronisten nicht eine souverän gezügelte Leidenschaft zu erkennen vermag und den Lyriker, der Mommsen als junger Mann war, bevor er ein Deuter des welthistorischen Phänomens Rom zu sein sich entschloß, ignoriert, obschon die frühe Passion im reifen Werk überall Spuren hinterlassen hat.

Besonders deutlich wirkt Mommsens poetischer Impetus in der „Charakteristik Caesars“, dem glanzvollen Finalkapitel der Römischen Geschichte, einem wahren „Reichskleinod“ (Kraus) deutscher Prosa, und die folgenden Passagen sollten allen, die ihre schöne Mutter Sprache lieben und sie ehren wollen, dabei helfen, ausgedehnte Sätze derart zu meistern, daß sie in jedem Wort so viel wie möglich sagen:

Auch [Caesar] hatte von dem Becher des Modelebens
den Schaum wie die Hefen gekostet,
hatte recitiert und deklamiert,
auf dem Faulbett
Literatur getrieben und Verse gemacht,
Liebeshändel jeder Gattung abgespielt und
sich einweihen lassen in alle
Rasier-, Frisier- und Manschettenmysterien
der damaligen Toilettenweisheit,
sowie in die noch weit geheimnisvollere Kunst
immer zu borgen und nie zu bezahlen.

Wie man sieht, war Mommsen trotz, nein, wegen aller stilistischen Disziplin frei zum Witzereißen. Niemand hat echtes Sprachbewußtsein, dem es an Flapsigkeit gebricht; lebendigen Umgang mit der Sprache pflegen hervorragend jene, die tote Phrasen beleben, indem sie sie eigentümlich gebrauchen:

Aber wie gern er auch noch als Monarch
mit den Frauen verkehrte,
so hat er doch nur mit ihnen gespielt und
ihnen keinerlei Einfluß über sich eingeräumt;
selbst sein vielbesprochenes Verhältnis
zu der Königin Kleopatra
ward nur angesponnen, um
einen schwachen Punkt
in seiner politischen Stellung zu maskieren.

Und ich, mit meinen fünf Jahrzehnten als Bücherwurm und meinen drei als öffentlicher Autor – was lerne ich noch bei Theodor Mommsen? Mehr als genug, um mich im Schatten seiner monumentalen Wortwerke in Demut zu üben, mein Können nicht zu überschätzen und mir bescheiden innezusein: Die Kürze hat keine Würze ohne die Strenge der Länge:

Wie der Körper war der Geist.

Ergo: tolle, lege!

Photo: „Theodor Mommsen by Franz von Lenbach“,
Franz von Lenbach [Public domain],
Sammlung Schiller-Nationalmuseum,
via Wikimedia Commons


Freitag, 20. August 2021 19:19
Abteilung: Litterarische Lustbarkeiten

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