Im Bernstein-Kabinett

Mehr als eine Woche ist vergangen, seit Fritz Weigle, der sich auch F. W. Bernstein nannte, diese Welt verließ, und ich bin immer noch fassungslos und fühle mich weiterhin außerstande, einen ordentlichen Nachruf zu verfassen; doch immerhin habe ich ein paar Worte notieren können.

Es ist ein Genie verstummt, das locker zwanzig Büchner-Preisträger zugleich in die Tasche steckte, ein Feuerkopf und Feuerwerker von einsamer Klasse; und welchen Verlust wir Hinterbliebenen zu beklagen haben, können wir nicht ermessen, bloß ahnen. Fritz Weigle war so groß, daß er sich kleinmachen konnte, ohne kokett zu wirken. Er hatte einen Blick, ein Gehör und ein Herz wie nur je ein genuines Genie. Egal was aus seiner Zeichenfeder oder seinem Schreibstift kam, war ein Meisterwerk, auch wenn es gar keines sein wollte.

Ich kann ihm nichts Angemessenes nachrufen, weil der Mann und sein Schaffen mir weiterhin so lebendig erscheinen wie der größte Teil der akuten Kunst und Poesie eben nicht. Ich weiß, in welcher Schuld meine eigenen lürischen Versuche bei diesem singulären Dichter stehen, und ich werde seinen Tod nicht hinnehmen, so lange ich die Schuld nicht abgetragen habe; also: immer.

Doch wenn ich schon unfähig bin, ein brauchbares Epitaph auf Fritz Weigle zu geben, kann ich wohl sagen, für welche Stücke ich ihn am meisten bewundere, was mir als die Essenz seines enormen Schaffens erscheint.

Darum sage ich, daß folgender Cartoon mir der teuerste von F. W. Bernstein, einer meiner drei höchstgeschätzten Bilderwitze überhaupt ist (die anderen stammen von Sempé und Gary Larson):

Reimwärts, Anabas-Verlag 1981


Und dann sage ich, daß ich in meiner lieben Mutter Sprache keinen Vierzeiler kenne – außer Ror Wolfs unsterblichem „wetterverhältnisse“ – der formal so vollkommen, semantisch so sicher, rhythmisch so effektiv ist und der so natürlich auf die Pointe zusteuert wie F. W. Bernsteins „Durchsage“. Ich ging, als ich noch studierte, mit diesem Gedicht geradezu hausieren, und ich stellte damals fest, daß meine Kommilitoninnen den Witz sofort verstanden, die Kommilitonen erst beim zweiten Mal. Aber vielleicht war meiner ein Jahrgang der besonders dummen Männer.

Durchsage
Zu Mannheim stand ein Automat
um die Jahrhundertwende,
der jeden an das Schienbein trat,
der dafür zahlte. Ende.
[Besternte Ernte, 1976]

Was ich von Fritz Weigle gelernt habe, ist neben vielem über Reim und Form, Stil und Bruch zumal dies: Nimm dich, Autor, bloß nicht so ernst wie dein Werk! Die berühmte „Bescheidenheit“ Weigles war gar keine, sondern die gänzliche Absenz von Eitelkeit. Er hatte jede Menge Gründe, sich auf seine Opera etwas einzubilden, aber er hat lieber gebildet. So wäre ich auch gern, zu gern; aber dazu gebricht es mir an Genie und außerdem an Weisheit.

Und, meine Güte!, was gäbe ich darum, eine Strophe wie die gleich folgende singen, ebenso witzig mit ebenso wenigen Wörtern sein zu können! Meine linke Hand? Na, lieber nicht. Ich werde besser weiterüben und weiterscheitern. – Übrigens wurden diese vier Verse, die zu dem Gedicht „Von den erogenen Zonen“ gehören, gleichfalls, wenn ich sie vortrug, von Damen mit mehr Einsicht und Gelächter belohnt als von Kerlen. Sie, die Frauen, verstehen eben mehr von Sprache und Humor als unsereiner. (Ausnahme: Fritz Weigle.)

Zwischen Knie und Sockenrand
ist erotisch ödes Land.
Schön ist zwar die Wade,
doch sie bringt‘s nicht. Schade.
[„Aus dem Schmatzkästlein des schweinischen Hausfreundes“, 1987]

Nun, eventuell gäbe ich meine Wade für solche Zeilen. Herr Weigle freilich würde dergleichen pathetischen Unfug mißbilligen, und wie wir jetzt wissen, ist die Wade sowieso kein Bringer.

Vor gut zwanzig Jahren wurde ich von Fritz Weigle, der in sein Skizzenbuch zeichnete, wann immer er Gelegenheit dazu fand, bei einem fröhlichen Umtrunk skizziert, und ich glaube, daß ich nie besser getroffen wurde. Überdies zeichnete der Maestro meine Nase etwas schmaler, als sie leider ist, und das rechne ich ihm fast so hoch an wie die Zeit, die er an mein Bildnis verwandte.

Was mich jedoch richtig stolz und sogar glücklich macht, ist eine andere, inkommensurable Ehre. 2006 verfertigten der liebe, leider auch schon verewigte Kompagnon Michael Rudolf und ich die Anekdotenfibel Stadt Land Russ‘. (Näheres dazu hier.)


F. W. Bernstein schmückte unsere Texte mit traumschönen Illustrationen, und weil er ein kluger, das heißt, werkdienlicher Zeichner war, passen seine Bilder nicht nur makellos zu den Worten, sie adeln sie. Die Russ‘-Anekdote, die ich für meine gelungenste halte, verbildlichte Bernstein wunderbar treffend, und wenn ich mir diese Kollaboration heute anschaue, fühle ich mich glatt drei Meter fünfzig groß und ebenso breit. Aber sehen (und lesen) Sie selbst.

Die verschlissene Joppe
Es lebte einst zu Eggolsheim ein Dorfschullehrer namens Friedrich Rumpel. Der war im ganzen Landkreise bekannt für seine viel zu enge Joppe, die aus nichts denn Flicken bestand. Die Schüler aber haßten ihn sehr, weil er bei jeder Gelegenheit nervte und vom Russ‘ erzählte und davon, wie er, der Rumpel, als Bub einer Brandschatzung entgangen war. Er hatte nämlich dem HErrgott geschworen, die Joppe nimmermehr zu wechseln, sollte er, der Rumpel, verschont bleiben.
Drei dreisten Knaben aus der Oberprima – Karl Höllriegl, Christian Fellzauser und August Hotz geheißen – wurde es schließlich zu dumm, und sie beschlossen, dem Lehrmeisterlein selbst eine Lehr‘ zu erteilen. Also schlichen sie sich des Nachts in Rumpels Kammer, entwendeten die berühmte Joppe und verbrannten sie mitsamt mehrerer alter Schulhefte.

– Am nächsten Morgen allerdings rieben die unverschämten Knaben sich mehr denn einmal die Augen: Stand doch ihr Lehrer in der nämlichen verschlissenen und viel zu engen Joppe vor ihnen und erzählte vom Russ‘ und davon, wie er, der Rumpel, einst seinen heiligen Eid geleistet. Was der Hotz, der Höllriegl und der Fellzauser nit wußten, war, daß ihr schlauer Lehrer ein gutes Dutzend dieser Joppen besaß, ward er doch alle paar Jahre gefoppt von Knaben wie ihnen.
Die drei Übeltäter jedoch glaubten an ein Wunder, gehorchten ihrem Lehrmeister fortan ohne Widerspruch und einer von ihnen, der Hotz, wäre fast zum Papst gekrönt worden, hätte ein versprengter Trupp‘ des Russ‘ ihn nit aufgegriffen und des Hotzens Haut zum Stoffe für eine Joppe genommen. Dies aber ist die Gerechtigkeit unseres HErrn, welchselber weder im Land- noch auf dem Erdenkreise etwas entgehet!

Und sollte es die Gerechtigkeit des HErrn wirklich geheben, dann möge ER dafür sorgen, daß der bedeutendste Lehrmeister der Neuen Frankfurter Schule so rasch wie möglich wiedergeboren wird. Die verdammte Menschheit hat nicht verdient, daß es einen F. W. Bernstein gibt, aber sie hat ihn nötig, so bitter, bitter nötig, als Trost und als Vorbild!

Und bitte, liebe Leserin, teurer Leser, verzeihen Sie mir, daß ich immer noch nicht die passenden Worte finde zu diesem Verlust. Ich hab ja erst angefangen zu suchen.

3 Kommentare

  1. 1

    Immherin, als weiter schaffender Dichter, kommt einem Thomas Gsella in den Sinn. Betretene Gesichter.
    RIP

    Oder Moritz Hürtgen oder Christian Maintz oder … Aber zehntausend Leuchttürme haben den allerersten, den von Pharos, leider nicht ersetzen können. (Vielleicht bin ich jetzt zu pathetisch.) KS

  2. 2

    Eine schöne persönliche Erinnerung an den großen F. W. Bernstein kommt auch von Vincent Klink (Tagebucheintrag vom 21. Dezember).

    Und dann noch eine so schön gereimte Zeichnung vom verewigten Meister – grazie mille für den Hinweis! KS

  3. 3

    Lieber und sehr geehrter Herr Sokolowsky,
    Sie haben schon mal ein paar schöne Worte gefunden. Die verdammte Menschheit hat einen Herrn Bernstein wirklich nicht verdient. Wie wahr, wie wahr. Waechter, Gernhardt, Bernstein. Jetzt sitzen „die Drei“ irgendwo oben und amüsieren sich anderweitig oder auch nicht oder doch oder auch nicht.
    Und ein bißchen neidisch bin ich auch. Der Herr Weigle hat Sie auch gezeichnet. Das ist etwas für die Ewigkeit. (Vor Ehrfurcht würde ich wahrscheinlich kein Wort herausbekommen und rot anlaufen, auch mit 54 Jahren noch…)
    Ich wünsche Ihnen ein schönes Jahr mit allem was dazu gehört. Was auch immer…
    (Ich bin der Mann aus dem Ruhrgebiet, der bei der ersten Horst Tomayer Gedenkfahrt – Krückentour – mit Fritz Tietz und seiner Frau Fahrrad fuhr. Eine klitzekleine Gruppe. Schade. Ich hatte mit zwanzig oder mehr Radlern gerechnet. Leider musste ich konditionsbedingt und wegen eines grippalen Infektes nach einem Tag abbrechen. Pah, 100 km an einem Tag ist für mich keine Krückentour.)

    Lieber Andreas Kahl, wenn ich an einem Tag 100 km radfahren könnte, würde ich mich drei Monate lang auf meinem Blog lobpreisen … Vielen Dank für Ihr Kompliment zu meinem Nachruf! Sie sollten aber nicht ein bißchen neidisch sein: Vielleicht hat Fritz Weigle Sie auch einmal gezeichnet? Schließlich hat er überall und bei jeder Gelegenheit sein Skizzenbuch gezückt. – Rot und um Worte verlegen war ich übrigens auch, als Weigle mich entwarf. Und damals war ich noch keine 40! KS

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