Per sempre addio: Michael Quasthoff
Für Renate
Ich würde ihn gern anrufen, um ihn zu fragen, ob ihm das hier recht ist. Wahrscheinlich nicht. Er hielt nicht viel davon, machte man um ihn ein Gewese. Dann würde ich erwidern: „Michael, bitte, man wird doch nur einmal 55!“ Dann hätten wir über die Schnapszahl geflachst. Und wenn ich ihm gesagt hätte, daß ich als Aufmacher-Photo das magische Bild verwende, das Marion Gülzow von ihm mit seinem Wodka-Gläschen gemacht hat: Nun, dann hätte ich ihn schon zu Vierfünfteln rumgekriegt, glaube ich. „Kein Thema“, hätte er gesagt, um den Fall abzuschließen, „ich werd‘ ja nur einmal 55.“
—Aber Michael Quasthoff ist nicht einmal 55 geworden. Der Tod, dieser Scheißkerl, riß einen der feinsten, klügsten, liebenswürdigsten Menschen, die kennenzulernen ich je das Glück und die Ehre hatte, vor fünfund-
zwanzig Monaten aus der Welt. Akzeptiert habe ich das bis heute nicht. Ich nehme es nicht hin, daß Michael nicht mehr hier ist. Wenn ich in meinem Leitungstelephon oder im Handy durchs Telephonbuch blättere, steht dort immer noch seine Nummer. Sie bleibt da auch. Der Tod mag Michael ausgelöscht haben. Ich jedoch weigere mich, bei „Quasthoff, Michael“ auf „Löschen“ zu drücken. Ich käme mir vor wie ein Henker, wie ein Gehilfe des Todes.
—Michael ist aus der Welt, das habe ich kapiert. Aber nur aus der Welt, nicht aus meinem Kopf und gleich gar nicht aus dem, was man das Herz nennt, obwohl man es als aufgeklärter Zeitgenosse anders nennen soll. Ist aber noch keinem was Besseres eingefallen.
—Wenn ich jetzt zum Telephon griffe und ihn anriefe und Michael nähme ab, weil ihm die Aufsicht im Hades oder Limbo oder Elysium (ich plädiere fürs Elysium) eine Stunde zur freien Verfügung genehmigt hat – was würde ich ihm sagen? Ich würde mir auf die Zunge beißen, damit ich nicht sage: „Was fällt Dir eigentlich ein, wegzugehen? Du hast sie wohl nicht alle! Wir brauchen dich hier!“ Das denke ich zwar ziemlich oft, aber ich schäme mich jedesmal für diesen Gedanken. Als wäre Michael gern gegangen! Als hätte er am Leben nicht eine Menge Vergnügen gefunden! Als sei ihm das, was das menschliche Leben mit Sinn versieht – die Wonnen der Kunst, der Sprache, der Freundschaft, der Liebe – nicht in großem Maß beschieden gewesen! Und zwar ganz und gar verdient.
—Also würde ich mir auf die Zunge beißen und anschließend sagen: „Michael, ich muß dir mal was sagen, was ich Trottel dir nie gesagt habe, weil man ja nie zur rechten Zeit sagt, wofür es keinen richtigen Zeitpunkt gibt. Ich muß dir sagen, daß ich gern einen Roman von dir lesen würde. Ich muß dir sagen, daß ich dich beneide um die Leichtigkeit, mit der du Pointen in deine Texte schüttelst. Ich muß dir sagen, wie gern ich bei dir Saxophon-Unterricht nähme. Ich muß dir sagen, wie wohl ich mich in deiner Gegenwart fühle. Wie dankbar ich dir dafür bin, daß ich mich im Suff wie ein Vollidiot aufführen kann und du mir das am Tag danach nie unter die Nase reibst. Wie dankbar für deine literarischen Empfehlungen, deine Ermunterungen, deine Gelassenheit, dein Lachen, dein Interesse, deine Geduld. Ich muß dir das sagen. Nein, keine Widerrede! Ich muß dir so vieles sagen, Michael, und das mußt du jetzt aushalten, tut mir leid. Ich muß dir sagen, daß ich dich vermisse wie ein Amputierter sein Bein vermißt … Daß ich jeden Tag eine Musik höre und an dich denken muß, ein Buch lese und an dich denken muß, einen Film sehe und an dich denken muß, mein Duschgel benutze und an dich denken muß … Warum, zum Geier, benutzt du eigentlich dieselbe Marke wie ich?“ Und dann beiße ich mir wieder auf die Zunge, aber gesagt ist gesagt.
—Was würdest du auf diese Suada sagen, Michael? „Ach, hör auf, ich bitte dich“ – vielleicht. Oder vielleicht: „Schickst du mir den Heiligenschein per Post oder E-Mail?“ Und vielleicht würdest du dann lachen, dein aus dem Bauch durch den Hals gluckerndes Lachen, das man nicht hören konnte, ohne mitzulachen oder wenigstens zu grinsen bis zu den Ohren. Meine Güte, wieviel Spaß ich mit Dir hatte …! Wie viele glückliche Augenblicke … Wie viel.
—Und dann würde ich vermutlich weinen, am Telephon. So, wie ich jetzt weine, beim Schreiben. Aber Michael würde einen Witz machen, einen guten, natürlich. Und anschließend, wenn ich zwischen den Schluchzern die Stimme wiederfinde, würde ich ihm sagen, daß mein allerliebstes Jazz-Stück von Lester Young diesen Titel hat: „Laughing to Keep from Crying“. Aber das wußte Michael ja schon, das habe ich ihm bereits im letzten Jahrtausend erzählt, und er hat es, natürlich, nicht vergessen.
—Und dann würden wir über Jazz reden, über Swing und über das Radiostück, das wir seit Jahren angehen wollen, das komische Fantasy-Hörspiel übers große Turnier der Fürsten des Jazz – der „Count“ Basie gegen den „Duke“ Ellington, der „King“ Benny Goodman gegen den „President“ Lester Young, die „Lady“ Billy Holiday gegen die „First Lady“ Ella Fitzgerald … Ach, wie gern ich das mit ihm geschrieben hätte! Wie stolz ich wäre, sein Co-Autor zu sein. Was ich hätte lernen können von ihm … „Hier schweige ich, es fehlen mir die Worte“ (Ror Wolf).
Unter den vielen makellos schönen Stücken, die Michael Quasthoff geschaffen hat in seinem Leben, ist mir keines so lieb wie der Song „Ein bißchen Wärme“. Wo ich angesichts der Gemeinheit und Brutalität der verwalteten Welt nur zornig werde und keinen Trost kenne, hat Michael sich seine Menschenliebe nicht vergällen lassen und eine Utopie erschaffen, deren Kraft alles überragt, was ich in meiner Wut je zu entfesseln vermag. Ich werde nie vergessen, wie ich 2005 beim Weihnachtsgala-Kehraus der Fitzoblong-Show zusammen mit den anderen Star-Gästen auf der Bühne stand und den Refrain mitzusingen versuchte. Ich habe keinen einzigen Ton getroffen. Ich weiß noch, wie ich Susanne Fischer bewunderte für ihre Souveränität und ihre Stimme. Und ich habe deutlich vor Augen, wie Michael sich freute über unseren Chor, sogar über mein Geblök. Daß ich seiner schönen Musik einen Sack voll Schande antat, hat übrigens niemand außer ihm gemerkt, denn Michaels Bruder Thomas, der berühmte Bariton, sang so prachtvoll, daß man im Auditorium Stümper wie mich nicht mal wahrnahm.
—Auf der großartigen CD „Fitzoblong im Club der Melancholie“, die Michael und sein perfekter Partner Dietrich zur Nedden 2006 veröffentlichten, hat Thomas Quasthoff „Ein bißchen Wärme“ fast so schön wie damals bei der Gala eingesungen. Den Refrain, diese lyrisch makellose, zutiefst beglückende Sequenz sollten Sie sich mal anhören, damit Sie verstehen, welch ein Genie, was für ein Mensch Michael Quasthoff gewesen ist:
—
Wir alle brauchen doch ein bißchen Wärme,
möchten Sie mein Ofen oder meine Therme
sein für diese Nacht, für eine Woche, für nen Monat, für ein Jahr?
Ach, das wär doch wunderbar!Wir alle brauchen doch ein bißchen Wärme,
ich für meinen Teil gebe sie gerne.
Denn der Mensch ist mehr als Geizhals, mehr als Schinder, Aktionär,
er ist ein kleiner, süßer Kuschelbär.
—
Sollte die Welt, auf der Michael leider nicht mehr ist, irgendwann so werden, wie sie endlich mal sein sollte, dann werden ihre Bewohner dieses Lied zur Hymne wählen. – Nein, keine Widerrede, Quax! Das Kompliment mußt du ertragen. Kein Thema!
—Und jetzt nimm deinen Wodka und ich nehm meinen Rum, und wir stoßen an, und dann haben wir mehr als nur ein bißchen Wärme. Mit Dir, mein lieber, mein unendlich vermißter Freund: Mit Dir hatte ich immer viel mehr als ein bißchen davon. Mit Dir war es nie kühl.
—Dein Wohl, Michael! Per sempre addio! Per sempre.
Aufmacher-Photo und Vignette: Marion Gülzow, Xylothek
Audio: „Fitzoblong im Club der Melancholie“
Mittwoch, 12. Dezember 2012 19:11
Lieber Kay, ja, es gibt diese Momente, ob in der Stadt, an Sonntagen oder im Urlaub, da denke ich an Michael, und an Renate, und es drückt im Bauch, unter dem Herzen.
Ganz herzlichen Dank für dein „Geburtstagsständchen“.
Bis Freitag, Uwe Kalwar
Dir vielen Dank für diesen wunderschönen Kommentar – bis Freitag! KS