Round midnight: Cinéma vérité (2)
Marginalien zu Kino & Wirklichkeit
Heute:
Der tote Baron
Vielleicht kennen Sie das: Sie haben den schönen Abend mit der vermaledeiten Steuer vertan, und obwohl diese Beschäftigung unfaßbar langweilig ist, bringt sie Sie jedesmal an den Rand der Hysterie. So wie mich vorhin. Meine Nerven waren nach Ende des buchhalterischen (Akzent auf „-te“ oder auf -hal“? Ich lern das nie) so gespannt, daß man Paganini-Cappricci drauf hätte fiedeln können. Da hilft nur ein Bier (eher drei) oder das Fänsän.
—Ich entschied mich fürs TV, weil ich sowieso schon Kopfschmerzen hatte. Um was passend Abregendes zu finden, meinetwegen eine Dokumentation über die Fugger (aber nicht über doppelte Buchführung), besuchte ich die Website Klack*. Und las nach zwei Umdrehungen des Scrollrads das hier:
Das nenne ich einen Klassiker frohgemut umschreiben! Aber wie kam der Fehler in den, sagen wir, Poller des Dateneingebers? Ich vermute, hier wurde der berühmte Baron mit dem beliebten Entertainer Herbert Feuerstein verwechselt. Was nahe liegt – schließlich hatten beide Männer es einige Jahre lang mit einem Wesen zu tun, das sie tyrannisierte. Oder war der anonyme Serviceautor inspiriert von Regisseur James Whales‘ reichlich freiem Umgang mit der Romanvorlage? Im Film von 1931 heißt der Leichenschneider gleichfalls falsch: „Henry“. (Wo doch jeder weiß, daß sein richtiger Vorname Peter ist, wie beim Frankenfeld!)
—Ich hab dann doch nicht fängäsän, sondern schnell aufgeschrieben, was einem passieren kann, der sich in Kino-Dingen auf die Weltwissensdatenbank Web verläßt. Und wie ich vermutlich bis ans Ende meiner Tage beim Namen Frankenstein immer erst mal an den Herbert denken muß. Und eben nicht an Boris Karloffs schmerzgefurchte Monstermiene, seine zum Archetyp gewordene, fast kubistische Figur. (Und jetzt hätte ich doch gern ein Bier. Nein, einen Schnaps!)
—
* Vor ein paar Jahren merkte ich im „Abfall“ schon mal was zu der schnurrigen Datenbank und relaxten Redaktion dieses Online-Programmguides an; klicken Sie bei Interesse bitte hier, flitzen Sie an den Weihnachtsmännchen vorbei und beachten Sie das untere ca. Drittel. Merci.
Dienstag, 12. April 2016 6:00
Als Shirley Shelley im schweizerischen Schaffhausen ihren schönen Schauerroman schrieb, wußte sie wohl um die gußeisernen Gesetze der Alliteration; daher kann der Held ihres makabren Meisterwerks natürlich nicht anders heißen als Fritz. Oder Franz. Oder Fridolin.
Wenn nicht gar … Frumpelstilzchen!
Bei der Gelegenheit -: Ist „Baron“ in diesem anspielungsgesättigen Romantikerkontext vielleicht eine Verballhornung von „Byron“? Über solche Fragen konnte Arno Schmidt einst ganze Radiostunden meditieren … Würde ich auch gern mal und werde bei dem Gedanken schlimm autorenneidisch (notieren, Broder!). KS
Dienstag, 12. April 2016 10:01
Akzent auf „buch“ bitte.
Danke! KS
Dienstag, 12. April 2016 21:48
G R Ö N E M E Y E R !
Horrorfilm + Lebenswerk / Frankenstein = Herbert
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Q.E.D
Ist der nicht heute sechzich geworden? Paßt schon mal – es gibt mind. 60 Verfilmungen von „Frankenstein“. – Außerdem wurde Grönemeyer in Goslar geboren. Die Gegend dort ist genauso schaurig wie das mythische Südhessen, in dem Baron von F. sein Wesen treibt.
In diesem Sinne also auch von mir ein q.e.d. KS
Donnerstag, 14. April 2016 6:32
Und ich hab bisher immer geglaubt, der quetschstimmige U-Boot-Propagandakrieger hätte seine elend lange Feindfahrt gegen Wohllaut und Stimmumfang wahrhaftig in Bochum angetreten! Aber „Hier, wo das Herz noch zählt / nicht das große Geld / Goslar, ich komm aus dir!“ hätte wohl wirklich zu ulkig geklungen.
Als Wahlkampfliedchen für den Siggi G. von der SPD würd’s aber passen wie ein dicker Arsch auf einen großen Nachttopf, finde ich.
Ich hab mich geirrt (s. Komm. v. Th. Küster u. meinen Komm. dazu) – Gröni kommt aus Götti.
Was deinen Kommentar aber nicht wesentlich ins Wanken bringt. Sondern sogar bestätigt. KS
Donnerstag, 14. April 2016 10:54
Ich lache immer noch über das Frumpelstilzchen – herzlichen Dank!
Baron und Byron; das ist eine sehr hübsche Idee. Vor langer Zeit kannte ich mich mal recht gut aus in dem Beziehungs- und Affärengeflecht um Byron und Shelley; jetzt weiß ich nur noch, daß es kompliziert war. Für Anspielungen aufeinander gab es definitiv mehr als genügende Anlässe. Mich bezahlt aber leider auch keiner dafür, solchen Dingen nachzugehen.
Grönemeyer wurde laut Wikipedia übrigens, um nicht nur den Gesetzen der Alliteration, sondern auch jenen der Assonanz zu gehorchen, in Gröttingen geboren. Aus Goslar stammt dagegen der dicke Vorsitzende der Schutzmacht des kleinen Mannes. (Wahrscheinlich wußten Sie das und haben die Assoziation absichtlich erzeugt, aber man weiß ja nie.) Und da ich jetzt in einem Absatz an die beiden gedacht habe, brauche ich, glaub‘ ich, in meinem ganzen Leben keinen Schauerroman mehr zu lesen und keinen Horrorfilm anzuschauen.
Man kann nie genug Horrorzeug lesen/gucken – sage ich, weil mein Kindheitslieblingsdichter Wilhelm Hauff („Das Gespensterschiff“) heißt. – Sie haben sonst natürlich recht: Gröni wurde in Götti geboren. Aber im Grunde kommt er aus Grauslar. (Und Gabriel aus Gruslingen). – „Baron“ und „Byron“ ist übrigens eine ECHT heiße Spur auf die komplizierten/komplexen Drei- bis Fünfecksverhältnisse zwischen den Shelleys und Lord Byron. Ich bitte hiermit um ein Forschungsstipendium! KS
Freitag, 15. April 2016 11:33
Ein Problem hat die schöne Baron/Byron-Theorie leider schon: Ich habe mal mein Exemplar des Romans durchgeblättert und nirgendwo was von einem Baron gefunden. Deshalb begab ich mich online auf die Suche: Wikipedia behauptet, daß Frankenstein den Titel des Barons erstmals in Bride of Frankenstein, dem zweiten der Frankenstein-Filme von James Whale trug:
https://en.wikipedia.org/wiki/Victor_Frankenstein#Film
Das schließt natürlich nicht aus, daß Whale dabei an Byron dachte, noch, daß Mary Shelley trotzdem Eigenschaften Byrons in den Charakter gepackt hat; der direkte Bezug ist aber wohl leider nicht herzustellen.
Ihre Kindheitsleidenschaft für Hauff teile ich übrigens. Ich habe mir mit zehn oder elf extra das Frakturlesen beigebracht, um eine alte, wunderbar illustrierte Gesamtausgabe der Märchen, die ich im elterlichen Bücherregal entdeckt hatte, verschlingen zu können. Hat mich damals sehr beeindruckt, habe ich aber seitdem nie wiedergelesen. Müßte ich eigentlich mal tun.
Lieber Thomas Küster – Sie sind ein gottverdammter Klugscheißer! Aber selbstverständlich haben Sie recht und mich mit offenen Hosen erwischt. Das kommt davon, wenn man einfach drauflosquasselt. Hier Herr Frankenstein in Shelleys Roman über seine Herkunft:
Also nicht nur kein Baron, sondern auch noch Schweizer – baaah! So
verschrumpeltimplodiert meine phantastische Hypothese, Küster, Sie Besserwisser!Daß Hauff auch Sie mal im Griff hatte, spricht übrigens ebenso für Sie wie Ihr kritischer Blick auf mein Geflunker.
Ein Tipp, falls Sie tatsächlich einmal den großen Hauff wiederlesen möchten: Unbedingt KEINE bearbeitete Kinderbuchfassung studieren. Die Originaltexte sind noch gruseliger – und poetischer, zumal „Der kleine Muck“ – als die pädagogisch geglätteten Versionen fürs Kinderzimmer. Kann natürlich sein, daß die Prachtausgabe Ihrer Knabenzeit Respekt vor dem Urtext wahrte … Nun, wenn Sie DIESEN Band noch besitzen, beneide ich Sie wirklich um das Wiederlesen.
Ich habe eine stark redigierte Auswahl der Hauff’schen Märchen mit neun Jahren zu Weihnachten geschenkt bekommen (und in zwei Tagen und Nächten wie ein Verhungernder verschlungen). Und erst knapp vier Jahrzehnte später entdeckt, welch ein Sprachkünstler dieser Wilhelm Hauff war, welch singuläres Erzählgenie, neben Eichendorff unser humanster Romantiker, wenngleich und leider ein antisemitischer Idiot wie sie alle. Aber er starb jung, ich trau ihm zu, daß er noch das Denken hätte lernen und diesen Stein aus seinem großen Herzen entfernen können. KS
Montag, 18. April 2016 22:42
Ich wollte ja nicht klugscheißen, ehrlich! Ich habe ja nur nachgeschaut, weil mir Ihre Idee so extrem gut gefallen hat. Allerdings bin ich doch auch ein bißchen doof gewesen, denn nachdem ich die von Ihnen zitierte Stelle über die Genfer Herkunft schon entdeckt hatte, habe ich bestimmt noch zehn Minuten lang nach dem „Baron“ geblättert – und erst durch Ihre Antwort wurde mir klar, daß ich mir das nun wirklich hätte sparen können. Hier wäre ein *facepalm* angebracht, wenn man hier Emotiköntjes dürfte…)
Schön gesagt, „ein antisemitischer Idiot wie sie alle.“ Man würde sich ja gerne aufs hohe Roß setzen, aber wenn ich daran denke, wieviele Jahre Konkret-Lektüre bei mir nötig waren, bis die durch das Aufwachsen in einem Haushalt mit Spiegel-Abo angelegten Ressentiments gegen Israel sich verflüchtigt hatten …
Lieber Thomas Küster, den „Klugscheißer“ habe ich genauso ernst gemeint wie dieser Typ neulich, als er „Ziegenficker“ sagte. Ich muß wohl an meiner Performance arbeiten. Und Ihnen ernsthaft versichern, wie gut es mir tut, wenn ein Leser mich so ernst nimmt, daß er mir Fehler nachweist, ohne „ätsch, du Depp“ dabei zu feixen!
Die abstruse „Baron/Byron“-Hypothese könnte übrigens Grundlage für eine schnurrige Novelle sein, in der Mr. Shelley seine Mrs. zwingt, den Frankenstein für die Druckfassung vom südhessischen Junker in einen Genfer Baptisten zu verwandeln – doppelte Chiffrierung, vielleicht mit einem satanistisch-katholischen Einschlag …! Wollen Sie die schreiben, oder soll ich? Bei mir könnte es freilich lange dauern. (2031?) KS
Mittwoch, 20. April 2016 8:23
Keine Sorge um Ihre Performance – ich hatte das schon richtig verstanden. „Ätsch, du Depp“ zu feixen wäre ja nun wirklich kindisch; ich bin immer dafür, Ideen ins Unreine zu testen, denn wenn alle immer erst was sagen, nachdem sie sich rundherum abgesichert haben, ist Ödnis garantiert.
Die schnurrige Novelle (die auch ich nicht schreiben werde) müßte eher umgekehrt laufen: Der ja nun ziemlich paranoide Percy, dessen Urteil zu Menschen abrupt von übertriebener Verehrung in noch übertriebenere Dämonisierung umschlagen konnte, müßte versuchen, seine Frau zu überreden, den bürgerlichen, eher tragischen Frankenstein in einen adligen Superschurken umzubauen. Der müßte Züge von Percys verhaßtem Vater, Sir Timothy Shelley, 2nd Baronet (echt wahr!) of Castle Goring, tragen und als Beispiel für die moralische Verkommenheit und Skrupellosigkeit des Adels im Allgemeinen und Sir Timothy Shelleys im Besonderen dienen. Etc. Verflixt, das gefällt mir.
Hat Arno Schmidt eigentlich mal was über die Shelleys gesagt oder geschrieben?
Da fragen Sie was … Das kann Ihnen, glaube ich, nur Bernd Rauschenbach beantworten; ich leider nicht. Oder treiben sich hier Leser herum, die Arno Schmidt inhaliert haben? Die dürfen sich jetzt gerne melden.
Ihr Novellenkonzept ist auch nicht ohne. Was aber bei Ihnen – wie bei mir – fehlt, ist Frankensteins Monster. Wofür steht nun das in dem drei- bis fünffach kodierten Text? Vielleicht für Percy Shelleys erste Ehefrau? – Vielleicht sollte Daniel Kehlmann die Geschichte übernehmen, könnte ihm liegen. KS
Donnerstag, 21. April 2016 11:40
Ist Kehlmann nicht das Monster? Nein, billiger und völlig unqualifizierter Gag. Ich bin wohl der einzige Mensch, der noch nicht eine Zeile von Kehlmann gelesen hat – obwohl mir Die Vermessung der Welt schon geradezu aufgedrängt wurde. Habe ich da ernsthaft was verpaßt, oder beliebten Sie zu scherzen?
Soso, bei drei- bis fünffach kodiert sind wir inzwischen? Ich fürchte, um jetzt hier noch weiterzuplänkeln, müßte ich anfangen, mich ernsthaft in die Materie einzuarbeiten, wozu mir leider die Zeit fehlt …
Mir gleichfalls. – Nein, bei Kehlmann haben Sie nicht viel verpaßt. Mir ist Die Vermessung der Welt freilich immer noch lieber als alles von S. Lewitscharoff. Nun ja, kein Kunststück. KS
Dienstag, 26. April 2016 6:48
Sie denken schon gelegentlich daran, daß man Ihr Blog vor dem Frühstück lesen könnte, ja?
Frau Lewitscharoff paßt nun natürlich hervorragend zum Thema, Kompliment! In unserer Novelle könnte sie einen mahnenden Auftritt bekommen, bei dem sie zetert: „Halbwesen! Halbwesen! Künschtliches Weißnichtwas!!! Fortpflanzungsgemurkse!!!! Das Humanum soll nicht angetaschtet werden!!!!!“
Lieber Thomas Küster, daß jemand meine Blogposts vor dem Frühstück lesen könnte, ist mir noch gar nicht in den Sinn gekommen. Ich schreib die nämlich in der Regel erst nach dem Abendbrot. KS