Zeuge der Geschichte (23)



Ein Herr mit etwa zweiundzwanzig Beinen,

ein Phänomen, ein Schatten, ein famoser,
ein allenfalls einsechsundsechzig großer
geschätzter netter Herr wird nun erscheinen.
Ror Wolf: „WM-Moritaten“

Als ich vom finalen Platzverweis des hinreißenden, begnadeten, unvergleichlichen Fußballspielers Diego Armando Maradona Francos erfuhr, zeigte ich dem Scheißschiri Tod spontan beide Mittelfinger.

Doch die böse Hand Gottes besteht aus nichts als Mittelfingern; was kann ich da schon tun?

Nun, dies zum Beispiel – einen schwelgenden, auch beim hundertsten Mal überwältigten Rückblick auf das schönste, wundersamste Tor der Fußballgeschichte:

 

 

Ich kann zweitens mit Nachdruck Emir Kusturicas vorzügliche Dokumentation „Maradona“ aus dem Jahr 2008 empfehlen – eine Lach- und Sachgeschichte über Krieg, Sport, Imperialismus und einen allenfalls einsechsundsechzig großen Mann, der größer war als eine ganze Armee.

Und drittens kann ich abermals meinen 1998 komponierten Heldengesang auf das WM-Finale von 1986 veröffentlichen. Denn hier ist alles in Wort und Rhythmus gesetzt, was ich an Maradona liebte, und viel inspirierter, als ich es jetzt, in der Stunde der Trauer, vermöchte.

***

DER BESSRE GEWANN!

ERSTER GESANG
Singe den Sieg, o Göttin, der argentinischen Stiere,
Stimme uns ein mit Lauten der Freude auf das Versagen,
Kläglich, verdient und allen willkommen, die Schande der deutschen
Truppgurken, wie sie sich zutrug im Endspiel der Weltmeisterschaft im
Jahre Acht-Sechs zu Mexiko-Stadt, der sonnenerhitzten
Herrlichen Perle des Hochlands! Und singe, o Göttin, vor allen
Lob dem begnadetsten Spieler, so jemals gelebt und getreten
Und wie der Sturmwind getragen den Ball übers Feld, ach, Diego,
Strammester, ach, aller Strammen, Gewitztester, ach, der Gewitzten,
Ach, Maradóna! Nicht wen‘ger denn drei teutonische Klötze
Band jenen Tages, es war Ende Juni, Dein magischer Fuß, Dein
Unwiderstehlicher Antritt, und ihre Namen verwehte,
Bliese hinweg der Wind der Geschichte, wären sie nicht durch
Dich für immer verewigt: Matthäus und Förster und Jakobs.
Wohl – ein Tor, Maradóna, war Dir nicht vergönnt in dem Glanz des
Estadio Aztéca vor einhundertzehntausend Menschen, frenetisch
Alles bejubelnd, was Du nur tatest, und wie erst ein Goal von
Dir, ach, Diego! Dumm aber, taub und wahrscheinlich auch blind sind
Jene, die meinen, Du habest rein gar nichts gerissen an diesem
Tage. Vergessen, verleumdet haben die dreisten Idioten
Dein berückendes Zuspiel, den tödlichen Paß auf, Moment, auf
J. Burruchága, acht Minuten vor Abpiff, der Schuß und
Drei-Zwei! Der Titel! Die Krone der Welt! Doch Einhalt, o Göttin,
Sprich Deiner Laute und meiner! Uns fehlet die Stimme des Mannes,
Welcher vom Klappstuhl, geklemmt zwischen Mikro und Ohrknopf, erbebend
Aussprach die Schmach der germanischen Elf. Wir rufen Rolf Kramer.

ZWEITER GESANG
„Dann ist der bärtige Vorstopper da“, sagt der bartlose Kramer,
Doch – „er trifft nicht richtig, zum Glück!“ Und fortan wird Rolf Kramer
Sergio Batísta nicht anders mehr nennen und kennen denn als den
„Bärtigen“. Kramer, Rolf, leidet und nörgelt, weil Deutschland rasiert wird.
Briegel kantapert linksaußen wie wirr. Es gehet rein gar nichts,
Gar nichts will gehen. Wir fassen zusammen: Der „Bärtige“ hat die
Abwehr im Griffe, die hilflosen Schläge der Deutschen erschüttern
Ihn nicht. Der Rasen, „ein Acker, entschuldigen Sie“, ein dürres
Feld, ganz zerpflügt, „Ästheten mögen verzeihen, so ist es“.
Aber die Stiere aus Argentinien lieben dies gelbe
Pampa-Geläuf und stampfen beherzt in des Gegners Gelände.
Kramer vermeldet erleichtert: „Zawei Brasilianer“, wie meinen?,
„Zwei Brasilianer stehen im Abseits.“ Es rascheln Papiere.
„Ja – was passiert mir denn da!“ Bestürzung, Zerknirschung: „Brasilien
Und Argentinien – haben Sie Nachsicht!“ Von wegen. Es sind nun
Zwei und zwahanzig Minuten gespielt, Matthäus befördert
Rauh Maradóna zu Boden, Verwarnung, es tritt Burruchága
Jetzt von halbrechts, und die Kugel, sie segelt im Bogen an vielen
Köpfen vorbei, vorbei auch an „Toni“, dem Torwart, der panisch,
Fast wie soeben gerissen aus seligem Schlummer, die Sudluft
Mit seinen Händen zerreißt, während kühn José Brown seinen Schädel
Gegen das Leder, das Segelnde, preßt, und da sinkt es und senkt sich
Schnurstracks ins leerstehnde Tor. Ein unglaublicher Fehler von Harald
Schumacher. Kramer entgeistert, vom Donner gerührt, sagt: „Das hatt‘
Ich“ – die Welt bleibt kurz stehen – „eigentlich nie noch gesehen.“
Wie bitte? Was? Er sagte: „noch nie“? Um Vergebung. Das Metrum!

DRITTER GESANG
Halbzeit beim Stande Eins-Null. Gegangen ist Allofs, ein Ausfall.
Völler, nicht fit und verwundet, soll wenden das Blatt, doch die Parzen
Haben, unnahbar der Sterblichen Flehen, entschieden, was sein soll.
Paß von Enríque (wir schreiben die sechsundfünfz‘gste Minute)
Grad‘ auf den Schuh von Valdano, und Schumacher zögert zu lange,
Stolpert daneben, Valdano zieht ab: Zwei zu Null. Ein gewaltger
Schrei zerfetzt jetzt das Glutlicht von Mexiko-City, und „Toni“,
Seit seiner Arschbombe, zähnezerschmetternd, vier Jahre zuvor, ein
Schrecken nicht nur Battistons – verlegen kaut er am Schnauzer.
Später, die Welt hat ihn gnädig vergessen, wird Schumacher sagen,
Was zu bekennen längst not tat: „Ich hielt wie ein Arsch.“ Ja, so hielt er.
Kramer, ein tüchtiger Mann, gebietet der Heimat, das Herz nicht
Sinken zu lassen – denn es erscheint jetzt für Felix, den Glücklosen,
Magath die „Brechstange“ Hoeneß, sein Vorname: Dieter. Er soll wohl
„Kopfballvorlagen geben“, jedoch er „hält sich den Kopf“, und
Kramer verliert schier jegliche Hoffnung. Nun aber, Göttin,
Singe und hilf, die bizarren Sekunden, den Dusel der Deutschen
Nüchtern zu schildern und bar jeder Meinung. Ein Eckball von Brehme,
Zwanzig Minuten vor Abpfiff, und Völler verlängert, und plötzlich
Zwei-Eins, weil Rumm‘nigges Knie der Pille im Wege, und dann
Einundachtzigste, Eckstoß, schon wieder von Brehme, und Völler
Hat seinen Brägen zur Stelle und köpft das Zwei-Zwei, meine Güte!
Alles jetzt offen? Wir lasen es oben: Ein Paß von Diego
Machte die Hoffnungen Deutschlands zuschanden, zum Glücke. Zum Ende
Flüstert Rolf Kramer ins Mikro: „Es ist zu Ende.“ Verloren.
Aber der Sieger, Diego, ein Vorbild!, tröstet Matthäus.

SCHLUSSGESANG
Also ward es vollbracht in Mexiko-Stadt, und die Menschen
Feierten, feixend, frohlockend, den Sieg jener wackeren Mannen,
Die es geschafft, die entsetzlichen Deutschen zu stoppen und lässig,
Fast ohne Schweiß im furchtbaren Dampf des Estadio Aztéca,
Niemals beirrt, von der eignen Legende beseelt, einfach sicher,
Stark durch die Stärke des Spielers, des größten, so jemals gelebt, so
Jemals getreten und wie der Sturmwind den Ball hat getragen
Über das Feld, ach, Diego! Propperster, ach, aller Proppren,
Du Verspieltester, ach, der Verspielten! Das Spiel ist ein Spiel nur,
Groß aber dann, wenn die Knüppel verlieren. So singe, o Göttin,
Künde den Sieg der besseren, besten Équipe des Turnieres,
Leih meinem Jubel die Macht Deiner Laute! Und ich gedenke
Des Anblicks Armándos, strahlenumflossen, beim Kuß des Pokales.

Photo: „Maradona 1986 vs Italy”,
by Unknown author, Public domain,
via Wikimedia Commons


Donnerstag, 26. November 2020 1:34
Abteilung: Lieder ohne Werte, Zeuge der Geschichte

Kommentare und Pings geschlossen.

Keine weiteren Kommentare möglich.